Der Funke des Chronos
Herrn Lewald. Jenfalls arbeit Sillem heute für ihn un seine Familje.«
»Ach, sieh an.« Dem Polizeiaktuar fielen die verworrene Aussage Caroline Lewalds und der Fremde mit dem angeblichen Gedächtnisverlust wieder ein. »Und wieso ist deinem Kameraden ausgerechnet dieser Kutscher aufgefallen?«
Verschwörerisch sah Borchert den Polizeiaktuar an. »Jo nu, Sillem hett mal im Zuchthaus sessen. Wegen Einbruch.«
Im Zuchthaus? Eigentlich hatte Kettenburg vorgehabt, die Sache mit dem nächtlichen Überfall an einen Untergebenen weiterzureichen. Soeben hatte er seine Meinung jedoch geändert.
»Borchert, finde doch mal heraus, was gestern Abend im Stadttheater gespielt wurde. Und gib Claas Bescheid, dass er die Droschke vorfahren soll. Ich möchte zu gern wissen, ob Justus Lewald weiß, wen er unter seinem Dach alles beherbergt.«
Der Obelisk
Hamburg/Altona/Elbchaussee 1842, 3. Mai,
31 Minuten nach 12 Uhr mittags
T obias’ Gedanken kreisten noch immer um die seltsame Vogelmaske, als sie das große Millerntor mit seinen Bastionen und Wachtürmen passierten und die Stadtwälle Hamburgs hinter sich ließen.
Doch seine Sorgen rückten in den Hintergrund, als linkerhand, zum Ufer der blauglitzernden Elbe hin, der Hamburger Berg auftauchte. Es handelte sich bei dem vor den Mauern der Stadt liegenden Vergnügungsviertel um keinen Berg im eigentlichen Sinne, eher um einen Hügel, der das Ufer der Elbe säumte. Dennoch bezeichneten die Hamburger das in sich abgeschlossene Gebiet als Berg. Caroline wies Tobias sogleich auf den nahen Spielbudenplatz hin, der sich nicht weit vom Tor entfernt erstreckte. Zahlreiche Schausteller und Wirte hatten dort ihre Etablissements errichtet, die sich längst über den Platz hinaus – entlang der Straße, die sie befuhren – ausgedehnt hatten. Seeleute und gut betuchte Bürger gleichermaßen strömten zu den Wagen, Zelten, Buden und Pavillons, um sich den dargebotenen Lustbarkeiten hinzugeben. Caroline erzählte begeistert von Seiltänzern, Jahrmarktzauberern, Gauklern und Tierbändigern, deren Vorführungen sie schon gesehen hatte. Am Sonntagnachmittag war der Hamburger Berg stets ein beliebtes Ausflugsziel vieler Familien. Nachts allerdings, so versicherte ihm Caroline mit roten Wangen, sei es auf dem ganzen Hamburger Berg nicht ungefährlich. Denn hier, im neuen Stadtteil St. Pauli, trieben sich dann abenteuerliche Matrosen und anderes zwielichtiges Gesindel herum. Ganz zu schweigen von den gefährlichen Baugruben, in die man wegen der mangelnden Straßenbeleuchtung hineinstürzen konnte. Tobias war all dies natürlich nicht unbekannt. Hier also hatten das berühmte St. Pauli und der allseits berüchtigte Kiez seinen Anfang genommen. Er beschloss, dem Spielbudenplatz unbedingt noch einen Besuch abzustatten.
In der Ferne entdeckte er Glashütten und Färbereien, und Caroline berichtete, dass auf dem Hamburger Berg früher auch Tranbrenner gearbeitet hatten. Walfang in Hamburg? Tobias merkte, dass er weniger über seine Heimatstadt wusste, als er angenommen hatte.
Kristian lenkte die Kutsche gerade an der Flut der Passanten vorbei, die Reeperbahn entlang, wo es unverkennbar nach Pech und Teer roch. Dort, wo sich zu seiner Zeit die weltbekannte Amüsiermeile erstreckte, befand sich jetzt eine schnurgerade, aus acht Baumreihen bestehende Allee, zwischen denen Seilerburschen Hanffäden ausspannten und zu dicken Seilen und Schiffstauen drehten.
Noch während er neugierig den Kopf aus dem Droschkenfenster streckte, kam ihnen ein mit Paketen beladener Pferdeomnibus mit Bauern und anderen Reisenden entgegen. Auf dem Bock, der sich hinter dem Wagen befand, stand ein Conducteur, der beim Vorbeifahren mit seiner Trompete ein melodisches Signal gab. Tobias sog die aufregenden Eindrücke in sich auf, während er den Schilderungen seiner Begleiterin aufmerksam lauschte. Offenbar schien es Caroline zu genießen, ihm, dem vermeintlich Fremden, Hamburg vorzustellen; er hingegen war für jede Erklärung dankbar, die ihm diese Epoche besser zu verstehen half.
Als sie wenig später den Grenzbaum am Nobistor auf der Seite Altonas passierten und die barocke Nachbarstadt Hamburgs durchquerten, erfuhr er, dass sie sich jetzt nicht mehr auf Hamburger Territorium, sondern im Herzogtum Holstein bewegten. Es gehörte zu Dänemark. Unvorstellbar, wenn man bedachte, dass Altona in seiner Gegenwart lediglich ein Stadtteil Hamburgs war. Er erinnerte sich wieder an seinen Geschichtsunterricht. Die
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