Der Funke des Chronos
fand neben zwei zusammengefalteten Zetteln ein zerfleddertes Notizbuch. Hastig sah er sich einen der beiden Zettel an. Dieser war über und über mit Gekritzel in einer unleserlichen Geheimschrift voll geschrieben, die sich um Abfolgen bildhafter Symbole rankte. Die Aneinanderreihung von Buchstaben ergab keinen Sinn. Doch die bildhaften Symbole dazwischen erkannte er sehr wohl: Das waren ägyptische Hieroglyphen.
Der zweite Zettel war zu seinem Erstaunen ebenfalls mit Hieroglyphen übersät. Handelte es sich hierbei um die geheimen Notizen eines Übersetzungsversuchs der dargestellten Hieroglyphen? War das in dieser Zeit überhaupt schon möglich?
Tobias versuchte sich zu konzentrieren. Wie viele seiner Mitschüler hatte er sich früher sehr für die Ägyptologie interessiert und alles, was mit Ausgrabungen zu tun hatte. Er musste sich nur erinnern. Richtig, geglückt war die Übersetzung der Hieroglyphen einem Franzosen. Sein Name war Jean-François Champollion. Das musste irgendwann zwischen 1820 und 1830 gewesen sein. Was nichts anderes hieß, als dass Entzifferungen altägyptischer Texte bereits seit gut und gern zwanzig Jahren möglich waren. Aber was hatte der Unbekannte hier zu übersetzen versucht? Einen alten Papyrus konnte er nirgends entdecken.
Tobias faltete die Zettel wieder zusammen und steckte sie kurzerhand in den Hosenbund. Nachdenklich griff er nach dem Büchlein und blätterte es durch. Wenigstens dieses war in deutscher Sprache verfasst. Doch sein Inhalt blieb rätselhaft. In schnörkelloser Handschrift waren geschichtliche Ereignisse und Anekdoten aus Hamburg protokolliert. Auf jeder Seite eine Begebenheit:
Sitzung 17: Dänische Truppen. Etwa Zehntausend. Sie rücken durch das Millerntor ein. Die Schlaffheit des kaufmännischen Regiments ist dem kriegerischen Zeitalter nicht gewachsen. Die Stadtschlüssel werden übergeben. Wehe den Schandtaten, die die Soldaten begehen. Der Lenz erwacht, als die Dänen abziehen.
Er blätterte weiter.
Sitzung 29: Ein Trauerzug. Welch ein bedrückendes Schauspiel. Zehntausende versammeln sich in der Königsstraße, dem toten Klopstock zur Ehre. Still ziehen sie vor das Tor. Ottensen ist ihr Ziel. Welch ergreifende Szene.
Wieder überschlug er einige Seiten.
Sitzung 33: Vom Hamburger Bauhof steigt ein Heißluftballon auf. Er gehört einer unerschrockenen Dame deutschen Blutes. Wir verstehen ihren Namen nicht. Der Regen zwingt sie unsanft auf eine Wiese.
So ging es in einem fort. Kopfschüttelnd klemmte Tobias das Notizbuch ebenfalls in den Hosenbund. Mit seinem Inhalt würde er sich später befassen. Von diesen Funden abgesehen war der Kasten leer. Er wollte gerade eines der Bücher zur Hand nehmen, als Caroline hinter ihm aufschrie. Mit der Hand am Florett fuhr er herum. Erst jetzt entdeckte er den schwarzgrauen Vorhang neben der Elektrisiermaschine, den seine Begleiterin zur Seite gezogen hatte. Im Zwielicht war er vor der dunklen Wand kaum auszumachen gewesen. Dahinter lag ein weiterer düsterer Kellerraum. Caroline hielt zitternd die Kerze in die Höhe, ließ die Kohleschaufel fallen und schlug entsetzt eine Hand vor den Mund.
»Tobias, komm schnell!«
Er eilte zu ihr und atmete scharf ein. Im Nachbarkeller stank es nach Blut und Schweiß. Der Raum war sogar noch etwas größer als das geheime Kellerlabor nebenan. Die Kerze in Carolines Hand riss an der Wand gegenüber zwei Eisenkäfige aus dem Dunkel. Sie waren leer, doch ihre Türen hatte man mit soliden Schlössern versehen. In einem von ihnen lag ein Frauenschuh, in dem anderen ein zerrissenes Taschentuch mit braunen Flecken. Blut?
Tobias hatte keinen Zweifel, dass man dort noch vor kurzem Menschen eingesperrt hatte.
Jetzt erst erkannte er, was der eigentliche Grund für Carolines entsetzten Aufschrei war. Auch ihm stockte das Blut in den Adern. An der im Halbdunkel liegenden Stirnseite des Kellerraums befand sich ein großer Seziertisch mit Arm- und Beinfesseln. Auf ihn geschnallt lag bäuchlings ein regungsloser Mann mit nacktem Oberkörper. Er lag mit dem Gesicht in einer ausgesägten Mulde des Tischs und war auch am Hals mit einer eisernen Fessel arretiert. Sein Hinterkopf war mit Blut überströmt. Gleich daneben lag eine fleckige Knochensäge.
Caroline stöhnte und brach ohnmächtig zusammen. Tobias schaffte es gerade noch, sie aufzufangen. Besorgt trug er sie neben die Elektrisiermaschine und legte sie sanft auf dem Boden ab. Schnell schlüpfte er aus seiner
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