Der Funke des Chronos
Franzosenzeit viele Kaffeeschmuggler, die haben aus Furcht vor Razzien unterirdische Fluchtwege angelegt. Wir müssen nur flink sein.«
»Auf keinen Fall gehe ich ohne sie.« Tobias deutete auf Caroline.
»Begreifen Sie denn nicht?« herrschte ihn der Fremde an. »Der jungen Frau wird nichts geschehen. Schauen Sie sie doch an. Sie ist ein Opfer! Aber uns beide wird man verhaften und ins Zuchthaus stecken. Sie, mein junger Freund, wird man so lange foltern, bis Sie gestehen, Ihre eigene Mutter erdrosselt zu haben. Und wenn erst aufgedeckt wird, wer ich wirklich bin, gibt das einen Skandal, dessen Konsequenzen Sie nicht im entferntesten ermessen können. Nicht im entferntesten!«
Tobias ballte die Fäuste. Hin- und hergerissen zwischen Pflicht und Selbsterhaltungstrieb betrachtete er die Ohnmächtige. Er war ein Schuft, wenn er sie hier allein zurückließ. Doch wenn man ihn jetzt verhaftete, war alles verloren. Alles!
»Gut, Sie sind Herr Ihres eigenen Schicksals.« Der Fremde zuckte mit den Schultern, warf sich die Tasche über und hastete zur Kellertür, wo in diesem Augenblick eine weitere Salve von Schüssen zu hören war.
»Warten Sie!« Unter den verwirrten Blicken des Uniformierten rannte Tobias in den Nachbarkeller und hob sein Florett auf. Anschließend beugte er sich noch einmal zu Caroline hinunter und streichelte ihr verzweifelt über das Haar. Er kam sich vor wie ein Verräter.
Doch was sollte er tun?
Schweren Herzens stolperte er zur Tür. Sein neuer Bekannter stand dort mit dem Rücken an der Wand und starrte mit zusammengepressten Lippen zur Kellerstiege hinüber, die am jenseitigen Ende des Ganges nach oben führte. Vor der untersten Stufe lag der Kahlköpfige. Noch immer hielt er beide Waffen umklammert, doch sein Blick war leer. Aus einem Loch in seiner Stirn rann ein dünner Blutfaden. Tobias empfand kein Mitleid.
Der Fremde deutete stumm zu einer der anderen Kellertüren, keine zwei Schritte entfernt.
Von oben dröhnte eine Stimme, die Tobias irgendwie vertraut war. »Etwas mehr Mumm, Männer! Ladet nach und dann hinunter mit euch! Borchert, schnapp dir eine Waffe und gib den Männern Feuerschutz!«
»Los jetzt!« gab Tobias’ Kampfgefährte das Kommando. Verwirrt folgte ihm der junge Mann.
Das Baumhaus
Hamburg 1842, 4. Mai,
eine Viertelstunde nach 8 Uhr am Morgen
M üde und zerschlagen starrte Tobias aus dem Fenster der Dachkammer, in der er zusammen mit dem Fremden die Nacht verbracht hatte. Von hier oben hatte man einen malerischen Blick auf den Hamburger Hafen und das Häusermeer der Stadt. Sein Blick schweifte über vertäute Schiffe aus aller Welt, deren Masten zum frühlingsblauen Himmel aufragten. Soeben legte ein englischer Dampfsegler schnaufend an einem der Kais an. Seine Rauchfahne wurde vom warmen Wind bis hinüber zu den Speichern des Kehrwieders auf der anderen Seite des Hafenbeckens getragen. Auf einem der Speicher war ein Kaminfeger damit beschäftigt, einen Schornstein zu reinigen, Matrosen trugen Ballen und Kisten an Land, und überall waren fleißige Lotsen, Schauerleute und Kontoristen zu sehen, die an den Kais und in den Speichern ihrem Tagwerk nachgingen.
Der Bärtige hatte ihn, nachdem sie gestern über den Keller des Nachbargrundstücks entkommen waren, über Umwege zu einem stattlichen Gebäude geführt, das er als das Baumhaus bezeichnete. Es hatte drei Stockwerke, besaß auf Höhe des höchsten Stockwerks eine umlaufende Dachterrasse und lag unmittelbar am Wasser. Es handelte sich bei diesem Gebäude um eine einstige Zollstation beim schwimmenden Schlagbaum, der den Binnen- vom Niederhafen trennte. Heute, so hatte ihm der Fremde erklärt, war in diesem Haus eine weithin bekannte Gastwirtschaft untergebracht, die bei den Hamburgern für ihre erlesenen Stockfischgerichte und das große Bierangebot bekannt war. Angeblich gab es in dem Gebäude sogar einen großen Saal, in dem der berühmte Komponist Georg Philipp Telemann einst Konzerte veranstaltet hatte.
Doch all das hatte Tobias nur am Rande zur Kenntnis genommen. Seine Gedanken waren noch immer bei den Ereignissen der letzten Nacht. Vor einer Viertelstunde war sein neuer Bekannter aufgestanden und hatte nach ihm geschaut. Doch Tobias war nicht nach Reden zumute gewesen. Daher hatte er so getan, als schliefe er. In Wahrheit hatte er die ganze Nacht kein Auge zugetan. Vor allem die Tatsache, dass er Caroline einfach zurückgelassen hatte, hatte ihn wach gehalten. Immer wieder musste er an sie
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