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Der Funke des Chronos

Titel: Der Funke des Chronos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Finn
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aus aller Herren Länder geschmückt waren. Sein Blick fiel auf große und kleine Buddelschiffe mit kunstvollen Schiffsminiaturen, den skelettierten Kopf eines Wals, ein Krokodil, Netze mit getrockneten Krebsen und Seesternen, afrikanische Totems, exotische Masken aus der Südsee und manches andere mehr. Plötzlich hielt er inne. Konnte das wahr sein? Über ihm an der Decke hing ein ausgestopfter Grönländer samt seinem Kanu. Sprachlos schaute er sich um, doch er war offenbar der einzige, der sich über diese Geschmacklosigkeit wunderte. Oder war der Tote nicht echt?
    Erst jetzt entdeckte er seinen Schicksalsgefährten. Elsass etwas abseits von den anderen Gästen an einem Tisch mit Blick zum Hafen und studierte ein Exemplar der ›Wöchentlichen Gemeinnützigen Nachrichten‹. Er hatte schon für sie beide bestellt. Beim Anblick von Brot, Butter, Käse, Marmelade und Schinken lief Tobias das Wasser im Mund zusammen. Er trat zu seinem neuen Bekannten und nahm Platz.
    Der ließ die Zeitung sinken und nickte ihm zu.
    »Greifen Sie zu. Möchten Sie Kaffee oder Tee?«
    »Kaffee, wenn es recht ist.«
    »Markör!« Der Bärtige winkte den Kellner heran und gab die Bestellung auf.
    »Der ausgestopfte Eskimo da hinten ist doch nicht echt, oder?« wollte Tobias wissen.
    »Doch, der ist echt«, erwiderte der Fremde ungerührt. »Er hängt hier schon so lange, wie ich das Baumhaus kenne. Stammt sicher aus dem Besitz eines Walfängers. In der kaiserlichen Schausammlung in Wien haben sie sogar einen ausgestopften Neger. Er war der Leibmohr des Fürsten Lobkowitz.«
    Tobias riss ungläubig die Augen auf.
    »Hier in Hamburg hat man sonst nur wenig Sinn für Skurrilitäten«, fuhr sein Gegenüber leichthin fort. »Lauter solide Häuser. Hier herrscht nicht der schändliche Macbeth, sondern hier herrscht Banco.«
    Spöttisch blickte er hinaus auf einen Kai, auf dem soeben zwei Börsenmakler einen Stapel Baumwolle inspizierten. »Ja, der Geist Bancos herrscht überall in diesem kleinen Freistaate. Nur im Baumhaus nicht. Hier treffen sich die Künstler und Freigeister. Zumindest im Sommer. Aber aus diesem Grund sind wir nicht hier. Ohne Umschweife gesagt, mein junger Freund, Sie sind mir ein Rätsel. Dass ich Sie gestern mitgenommen habe, haben Sie allein meiner grenzenlosen Neugier zu verdanken.«
    »Nennen Sie mich einfach Tobias!« Herzhaft biss er in ein Schinkenbrötchen. Trotz seiner Müdigkeit und trotz des ausgestopften Toten an der Decke über ihm schmeckte es ihm hervorragend. »Und Sie sind, nehme ich an, Heinrich Heine. Richtig?«
    Seinem Gegenüber fiel fast die Zeitung aus der Hand. Verunsichert schaute sich der feine Mann um. »Wie … wie sind Sie darauf gekommen?«
    »Ich habe Sie wieder erkannt. Vor einiger Zeit habe ich ein Porträt von Ihnen in einer Zeitung gesehen«, log er.
    »Ich hoffe, Sie behalten Ihr Wissen für sich«, flüsterte Heine. »Niemand soll wissen, dass ich in der Stadt bin. Nicht einmal Campe, mein Verleger, ist davon in Kenntnis gesetzt. Er wird es mir höchst übel nehmen, wenn ich ihn nicht besuche.«
    »Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Ich habe derzeit selbst mehr Probleme, als mir lieb sind.« Tobias wunderte sich über seine Kühnheit. In Wahrheit konnte er es immer noch nicht fassen, mit diesem großen deutschen Dichter an einem Tisch zu sitzen.
    »Danke noch einmal für gestern«, fügte er hinzu. »Und auch für diese Essenseinladung. Leider bin ich gänzlich ohne Mittel.«
    »Eine solche Situation kenne ich nur zur Genüge«, erklärte Heine ohne jeden Spott. »Darf ich jetzt erfahren, was Sie gestern an diesem« – vorsichtig schaute er sich um und senkte die Stimme – »fürchterlichen Ort zu suchen hatten?«
    In diesem Augenblick kam der Kellner und brachte den Kaffee. Beide warteten, bis der Mann fort war. Tobias schenkte sich eine große Tasse ein und spürte bereits nach wenigen Schlucken, dass seine Lebensgeister wieder erwachten.
    »Herr Heine«, begann er, »darf ich ehrlich sein? Vor sich sehen Sie einen ziemlich verzweifelten Menschen. Ich habe nichts. Keine Barschaft, nicht einmal einen Zufluchtsort, an den ich mich zurückziehen könnte. Selbst meine derzeitige Kleidung gehört nicht mir. Aber das wissen Sie ja.« Tobias lachte freudlos.
    »Sie Lump, Sie wollen mich erpressen?« fauchte Heine plötzlich misstrauisch. »Geht es Ihnen um Geld? Sie vergessen wohl, dass Sie nichts in der Hand haben, was …«
    »Nein. Nein. Nein.« Tobias schüttete heftig den Kopf

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