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Der Funke des Chronos

Titel: Der Funke des Chronos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Finn
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Zeitgeist,
    Waldursprünglich Sanskülotte:
     
    Sehr schlecht tanzend, doch Gesinnung
    Tragend in der zotigen Hochbrust;
    Manchmal auch gestunken habend;
    Kein Talent, doch ein Charakter!
     
    Offenbar handelte es sich um eine bislang unfertige Fabel. Zugleich wurde klar, dass der Fremde nicht von Tieren, sondern von seinen menschlichen Zeitgenossen sprach. Er legte den Block zur Seite und entdeckte in einer Seitenlasche des Koffers einen aufgerissenen Briefumschlag. Er war von einem gewissen H. Laube in Leipzig aufgegeben worden. Als Tobias ihn umdrehte und die Pariser Anschrift studierte, weiteten sich seine Augen vor Überraschung. Das konnte doch nicht wahr sein! Der Brief war an keinen Geringeren gerichtet als an den Dichter Heinrich Heine! Hastig versuchte sich Tobias in Erinnerung zu rufen, was er über den berühmten Poeten wusste. Heine gehörte zu den Schriftstellern des so genannten Jungen Deutschlands, die mit ihren provokanten Schriften die Aristokratie im Deutschen Bund herausgefordert hatten. Sie verlangten unter anderem mehr Demokratie und ein vereinigtes Deutschland. Ihre Werke waren in diesen Jahren zu großen Teilen verboten. Heine war daher nach Paris ausgewandert, wo er irgendwann in den Fünfzigern dieses Jahrhunderts elendig an einem Nervenleiden zugrunde gehen würde. Es handelte sich um eine rätselhafte Krankheit, die ihn in den letzten Jahren seines Lebens ans Bett seiner Pariser Wohnung fesseln würde. In seinen Briefen hatte der Dichter den Ort stets als ›Matratzengruft‹ bezeichnet. Noch war es natürlich nicht soweit. Jetzt schrieb man das Jahr 1842. Aber alles passte zu den Funden, die Tobias soeben gemacht hatte.
    Plötzlich waren auf der Stiege vor der Kammer Stiefelschritte zu hören. Hastig klappte Tobias den Koffer wieder zu und eilte zu seiner Seite des Zimmers zurück. Keinen Augenblick zu spät, denn schon öffnete sich die Tür. Im Rahmen stand der Fremde und betrachtete ihn ernst.
    »Ah, ich sehe, Sie sind erwacht und angezogen. Ich hoffe, die Kleidung passt Ihnen.«
    »Ja, danke«, stammelte er.
    Der Mann musterte ihn von oben bis unten und stutzte, als er Tobias’ verdreckte Stiefel entdeckte. Kopfschüttelnd trat er zu seiner eigenen Schlafstatt und zog darunter eine Schuhbürste und eine Büchse mit Schuhcreme hervor. »Hier, bevor wir unten frühstücken, sollten Sie das benutzen. Und vielleicht binden Sie Ihr Haar zusammen. Sie sollten niemandem Gelegenheit geben, Sie für einen weibischen Schnapphans zu halten.«
    Tobias nickte überrumpelt.
    »Anschließend werden sich unsere Wege wohl trennen«, fuhr der Fremde fort. »Vielleicht stillen Sie ja doch noch meine Neugier, warum Sie diesem Keller gestern einen Besuch abgestattet haben. Also, ich warte unten.«
    Kurz darauf war er wieder verschwunden, und Tobias starrte mit offenem Mund zur Tür. Ein weibischer Schnapphans also? War der Mann wirklich Heinrich Heine? Himmel, die Überraschungen nahmen kein Ende.
    Tobias putzte so schnell wie möglich seine Schuhe, band seine blonden Haare zusammen und beschloss, sein Florett im Zimmer zu lassen. Dann eilte auch er die Treppe nach unten. Das Interieur des Baumhauses war beeindruckend. Die lichtdurchfluteten Geschosse waren mit hübschen Öllampen aus Messing versehen, zwischen denen Bilder Hamburger Künstler hingen. Von den Türen zweigten große Räume ab, die offenbar für Tagungen oder Familienfeste genutzt werden konnten. Weitere Gästezimmer fand er nicht. Offenbar handelte es sich bei dem Dachzimmer, in dem sie genächtigt hatten, um eine Gesindekammer. Ein weiterer Hinweis darauf, dass der Dichter inkognito unterwegs war. Wenn es sich bei ihm wirklich um Heinrich Heine handelte …
    Endlich erreichte er den Speiseraum im Erdgeschoß des Gebäudes, wo er freundliches Lachen hörte. Der große Saal war mit maritim beschnitzten Pfeilern und hohen Fenstern ausgestattet, durch die das Morgenlicht weich und warm auf einladend gedeckte Tische fiel. Im Raum roch es nach Kaffee und Brötchen. Ein gutes Dutzend elegant gekleideter Bürger hatte sich hier zum Frühstück eingefunden. Tobias vernahm Sprachfetzen in hartem Deutsch, dahinplätscherndem Englisch und eigentümlich melodischem Dänisch. An der nahen Garderobe hingen Zeitungen, und ein Kellner und ein Serviermädchen waren ohne Unterlass damit beschäftigt, zwischen Küche und Speiseraum hin und her zu eilen. Tobias nickte freundlich in die Runde und sah jetzt auch, dass Wände und Decke mit Sehenswürdigkeiten

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