Der Funke des Chronos
Kerl, der für dies alles verantwortlich ist, muss ein perverser, kranker Unhold sein!« fluchte Tobias. Er atmete tief ein und wandte sich dem Toten zu. Sein Hinterkopf war aufgesägt worden, so dass Teile des Großhirns offen sichtbar waren. Die graue Masse schimmerte blutig-feucht im Kerzenlicht.
»Der ist noch nicht lange tot«, murmelte er. »Höchstens ein paar Stunden. Und wie es aussieht, hat man ihm all das bei lebendigem Leib zugefügt.«
»Was haben Sie vor?« flüsterte sein Begleiter. Dessen Gesicht hatte inzwischen eine aschgraue Färbung angenommen – er fasste sich mit zusammengepressten Lippen an die Schläfen, so als schwindle ihm. Dennoch trat er näher an den Gefesselten heran. Jetzt erst bemerkte Tobias, dass der Fremde das linke Bein unmerklich nachzog.
»Sie wissen es vielleicht nicht«, klärte er seinen Begleiter auf, »aber in Hamburg treibt derzeit ein Mörder sein Unwesen. Eines seiner Opfer habe ich vor einigen Tagen entdeckt. Ich habe den Mann nebenan dabei erwischt, wie er die Leiche in einem Fleet verschwinden lassen wollte. Der Tote wies die gleiche Verletzung am Hinterkopf auf wie der hier. Inzwischen frage ich mich, warum.«
»Furchtbar. Das heißt, wir befinden uns an dem Ort, an dem die Morde verübt wurden?«
»Davon gehe ich aus«, fuhr Tobias fort. »Und jetzt will ich herausfinden, was den Opfern angetan wurde. Kommen Sie, halten Sie die Kerze, damit ich besser sehen kann.«
»Ich weiß etwas Besseres.« Sein Begleiter verließ den Raum und kam kurz darauf mit einer Laterne zurück. Er drehte die Blende auf, und helles Licht flutete über den halbnackten Körper.
Erst jetzt erkannte Tobias, dass die verklebten Haare des Opfers nicht allein durch Blut rot gefärbt waren. Es war ihr natürlicher Grundton. Ihm kam ein fürchterlicher Verdacht.
»Bitte, helfen Sie mir, die Halsfessel zu lösen, damit ich das Gesicht des Toten sehen kann.«
Gemeinsam lösten sie den Metallverschluß, und vorsichtig hob Tobias den Kopf aus der Mulde im Tisch an. Ihm war, als ströme ihm plötzlich Eiswasser durch die Adern.
»Oh, nein. Kristian!«
Halb gelähmt vor Entsetzen ließ er den Toten wieder zurücksinken. Dann hatte der Kutscher bei seiner Suche also todbringenden Erfolg gehabt. Tobias schluckte. Er selbst trug die Schuld an diesem Opfer. Er allein. Ohne ihn würde der Kutscher noch leben.
»Sie kennen den Mann?«
Tobias nickte bestürzt. »Es handelt sich um einen Angestellten der bewusstlosen Dame nebenan. Sie darf ihn auf keinen Fall zu Gesicht bekommen.«
»Selbstverständlich. Das tut mir leid.«
»Nein, es wird demjenigen noch leid tun, der Kristian das angetan hat!« knurrte Tobias. Von einem Augenblick zum anderen packte ihn die helle Wut. »Los, leuchten Sie mir! Dieser Mann soll nicht umsonst gestorben sein.«
Unter dem neugierigen Blick des Fremden nahm er das chirurgische Besteck zur Hand und machte sich fieberhaft an die Arbeit. Kristians Peiniger hatte das Gehirn zwischen Cerebrum und Cerebellum aufgeschnitten. Der Eingriff reichte sehr tief, bis zum Hypothalamus, wo die vegetativen Funktionen und das Reaktionsverhalten gesteuert wurden. Doch halt, etwas fehlte: ein grau-rötlicher Gewebeknoten über dem Kleinhirn. Die Epiphysis. Man hatte sie herausgeschnitten. Zweifelnd blickt Tobias auf.
»Man hat ihm die Zirbeldrüse entfernt.«
»Die Zirbeldrüse?« wiederholte der Mann neben ihm, der sich inzwischen offenbar wieder gefasst hatte. »Das ist höchst bemerkenswert. Die Rosenkreuzer betrachten dieses Organ als das spirituelle dritte Auge des Menschen. Angeblich erlaubt es Hellsichtigkeit.«
»Das ist Humbug«, widersprach Tobias.
»Erklären Sie das dem, der diese Studien dort aufgehängt hat.« Der Fremde wies mit finsterem Blick auf die Blätter an der Wand. »Auf mich wirkt das so, als sei hier jemand tätig gewesen, der über vorzügliches Wissen in den okkulten Wissenschaften verfügt. Denken Sie darüber nach. Ich muss Sie jetzt allein lassen.« Mit diesen Worten zog sich der Mann in den Nachbarraum zurück.
Tobias starrte den Ermordeten eine Weile an und ließ Skalpell und Schaber traurig sinken. Es war ein Unterschied, ob man in der Pathologie einen Unbekannten untersuchte oder ob es jemand war, den man persönlich gekannt hatte. Er schwor sich, Kristians Tod zu rächen.
Aus dem Nachbarraum war ein leises Rumpeln zu hören.
»Was tun Sie da drüben?« Tobias riss eine der Zeichnungen von der Wand und wischte sich die blutigen Hände damit ab.
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