Der Funke des Chronos
Leben besitze.«
»Soso.« Der Bankier runzelte die Stirn. »Und was wurde Lewald entwendet?«
»Soweit ich weiß, nichts von Bedeutung.«
»Hm.« Salomon Heine schenkte sich ein neues Glas Fortwein ein und trat neben seinen Neffen ans Fenster. Nachdenklich nippte er an dem Getränk. »Harry, was hältst du von der Sache?«
Heinrich Heine musterte Tobias mit zugekniffenen Augen und blickte dann geringschätzig weg. »Wahrscheinlich will er nur Geld.«
»Begreifen Sie denn nicht?« begehrte Tobias auf. »Dieser Kerl, der Sie bestohlen hat, ist ein Mörder! In dem verfluchten Keller wurden Menschenexperimente durchgeführt. Denken Sie, er wird aufhören, wenn wir ihn nicht aufhalten? Ich verlange überhaupt nicht, dass Sie sich an der Suche nach ihm beteiligen. Nur, bitte, geben Sie mir einen Hinweis, der mich weiterbringt.«
Tobias schwenkte Notizbuch und Zettel. »Was in Gottes Namen ist hieran so phantastisch, Herr Heine, dass Sie und Ihr Neffe es mir nicht sagen wollen?«
Salomon Heine warf seinem berühmten Verwandten einen unglücklichen Seitenblick zu. Nachdenklich trat er näher zu Tobias. Den Kopf leicht geneigt, studierte er ihn und die Funde. »Ihnen ist’s damit offenbar ernst, junger Mann. Ich mein, diesen Mann zu finden, jo?«
»Ja, das ist es.«
»Hm. Sie sind nicht ganz zufällig Mitglied einer geheimen Loge? Freimaurer? Rosenkreuzer? Dekabristen? Kabbalisten? Illuminaten? Oder was es da sonst noch gibt?«
»Nein«, erklärte Tobias entschieden.
»Und Sie gehen auch keinen sonstigen okkulten Beschäftigungen nach?«
»Um alles in der Welt, wovon sprechen Sie?«
Der Bankier seufzte und nahm dem Studenten kurzerhand Notizbuch und Zettel ab. Die Zettel faltete er auseinander und warf einen Blick darauf.
»Ei, sieh an! Die kenne ich nit. Die sind neu.«
»Helfen Sie mir?« fragte Tobias.
Der Bankier schwieg und schien ihn einschätzen zu wollen.
»Ach, was soll’s.« Er trat zum Buffettisch und bot nun auch Tobias ein Glas Port an. »Sehens, junger Mann, ich bin tätig in einer Branche, in der allein der Ruch, etwas zu schaffen zu haben mit diese Dinge, kann haben katastrophale Folgen. Haben’s in das Bichel reingeschaut?«
Salomon Heine schlug das Notizbuch auf und sah ihn an. Tobias zuckte die Achseln. »Ja, ich habe reingeschaut. Lauter Anekdoten.«
»Ja, lauter Hamburger Anekdoten«, wiederholte der Bankier seufzend. »Ein Büchlein, geschrieben voll mit Geschichten. Mein Neffe, der dumme Junge, könnt’s kaum besser.«
Heinrich Heine verzog das Gesicht und leerte sein Glas mit einem Zug.
»Hier«, fuhr der Bankier fort und tippte auf einen der vorderen Einträge. »Der Einmarsch der Dänen in Hamburg. Das war 1801. Und da« – er blätterte ein paar Seiten vor –, »der Abriss des Hamburger Doms sechs Jahre später. Ein Bichel voller Histörchen. Einträge über Sturmfluten, Epidemien, Brände … Aber auch Erbauliches, Erfreuliches. War ja sonst auch kaum zum Aushalten. Sehens, sogar unser Musikfest letztes Jahr mit dem illuminierten Pavillon auf der Alster ist vermerkt.« Der Bankier hatte das Buch etwa in der Mitte aufgeklappt und drehte es so, dass Tobias einen Blick auf die Seiten werten konnte. »Fällt Ihnen etwas auf, junger Mann?«
Tobias schüttelte verständnislos den Kopf. Was sollte ihm auffallen?
»Schauen’s genauer hin.« Salomon Heine blätterte einige Seiten vor und zeigte ihm weitere Einträge.
Er begriff noch immer nicht. Weitere Einträge. Na und?
»Wann wird all das geschehen?« Der Alte sah ihn lauernd an. »Was, wenn ich Ihnen sage, dass dies Bichel wurde geschrieben im Jahr 1793?«
Tobias keuchte auf. »Das ist nicht Ihr Ernst!«
»Das ist mein voller Ernst«, erklärte Salomon Heine ruhig. »Sehens, als ich damals als armer Judenjunge nach Hamburg kam, hab ich angefangen als Botenjunge und Bleistiftverkäufer. Dann hab ich gefunden eine Anstellung im Bankhaus Popert, und 1797 hab ich mich zusammen mit Heckscher selbständig gemacht. Hab ich in meinem zweiten Jahr einem verarmten jüdischen Baumwollfabrikanten aus Altona unter die Arme gegriffen. Mocht ich, den Mann. Sehr bescheiden. Sehr religiös. Sein Name war Isaac Steinwasser. Als es mit ihm 1803 ans Sterben ging, hat er mich zu sich gebeten, wo er erzählte mir eine wunderliche Geschichte und gab mir dieses Bichel.«
Plötzlich gähnte der Bankier und setzte sich mit knackenden Gliedern an den Tisch. »Komm, Harry, erzähl du dem jungen Mann die Geschichte. Ich bin müd – und du tust
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