Der Gärtner von Otschakow
an den Leinen umherzugehen.
»Wir müssen mit dem Anfang beginnen, die ersten Bilder sind schon fertig«, sagte der Fotograf.
Er raschelte eine ganze Weile hinter dem Schirm, dann kam er wieder hervor und legte auf den Sofatisch vor Igor [316] und Koljan einen Stapel schwarz-weißer, großformatiger Fotos.
»Schauen Sie sich erst mal das hier an, die sind so geordnet, wie sie dann hängen werden«, sagte er. »Und ich nehme inzwischen die übrigen ab, sind schon trocken.«
»Guck es dir genau an und präge es dir ein«, flüsterte Igor Koljan zu, froh, dass der Besitzer des Fotostudios nicht mehr neben ihnen stand. »Hier, siehst du, das ist Otschakow. Das ist die Straße, in der Wanja Samochin mit seiner Mutter wohnt. Hier sind sie beide, und das bin ich mit Wanja. Da ist das Haus von Tschagin, hier stehen sie vor der Tür, Josip und Fima… Die brauchst du nicht. Wenn du die siehst, wechsle auf die andere Straßenseite… Da! Da ist der Markt, schau! Walja! Sie ist rothaarig, das sieht man hier nicht! Eine Schönheit! Wild!«
Igor wiegte träumerisch den Kopf. Er bemerkte, dass Koljan die Frau hinter dem Marktstand, auf dem Flundern und Grundeln lagen, mit seinem Blick verschlang.
»Für so eine geht man überallhin«, ergänzte Igor, der sich freute, dass das Foto bei seinem Freund Interesse geweckt hatte. »Ob in die Vergangenheit oder in die Zukunft!«
Auf den Tisch senkte sich ein neuer Stapel Fotos.
»So, das ist der zweite Teil!«, sagte der Fotograf und machte es sich neben ihnen im Sessel bequem.
Als er ein weiteres Bild beiseitelegte, erstarrte Igor. Er hatte schon die Finger zu dem nächsten Großformat-Bild von Walja ausgestreckt, aber dass vor ihr auf dem Foto Fima Tschagin stand, erschreckte ihn. Aus Tschagins Gesicht sprach unverhohlene Drohung, und Waljas Augen und Miene waren starr vor Angst, wirklicher Angst.
[317] »Was ist mit den beiden?«, fragte Koljan fast gleichgültig. »Sind sie zusammen?«
»Sie hat einen Mann, einen Fischer. Sie verkauft seinen Fang. Ich glaube nicht, dass sie zusammen sind…«
Koljan schielte seltsam zu Igor herüber und zog die offene Kapuze der Daunenjacke hoch.
»Sag mir etwas anderes«, bat Igor völlig ernst. »Siehst du, dass das alles wirklich ist?«
Koljan nickte. Und sah zu dem Fotografen hinüber, der ihrem Gespräch lauschte.
»Wirklich, wirklich«, flüsterte der Herr über das Fotostudio, während er Koljans Blick erwiderte. »Nur sagt er hier«, er wies mit dem Kopf zu Igor, »nicht, wie ihm das gelungen ist…«
»Irgendwann sage ich es«, versprach Igor, und auf seinem Gesicht lag ein listiges Lächeln.
»Das hoffe ich«, sagte der Fotograf. »Es wäre eine Revolution in der Fotografie. Das heißt, sie ist ja schon da, nur…«
»Haben Sie schon kleine Abzüge der letzten Filme?«, fragte Igor plötzlich.
»Ja, Kontrollabzüge habe ich gemacht. Soll ich sie Ihnen mitgeben?«
»Ja!«
Zurück, bergab zum Bahnhof, gingen sie schnell. Seinem Gang nach zu schließen, war Koljan vollständig nüchtern geworden. Er hatte die Kapuze auf, in der Gesichtsöffnung sah man nur Augen, Nase und ein wenig Jod. Passanten gab es fast keine, und zu ihrem Glück fiel jetzt auch noch ein leichter Regen und schob den Anbruch des Morgens hinaus.
[318] Am Bahnhof nahmen sie für hundert Griwni ein privates Taxi, einen alten Schiguli Kombi, der sie nach Irpen fuhr.
Die Scheibenwischer des Kombis strichen laut zischend die Regentropfen von der Windschutzscheibe. Igor saß neben dem Fahrer, Koljan schlief, ohne die Kapuze abgenommen zu haben, auf dem Rücksitz.
»Lange ausgewesen, ja? War’s gut?«, fragte freundlich der Fahrer, ein Mann um die sechzig.
»Sehr gut«, antwortete Igor. »Er«, er wies mit dem Kopf nach hinten zu seinem schlafenden Freund, »kommt nicht so bald wieder zu sich!«
»Vor Freude oder vor Kummer?«, erkundigte sich der Fahrer.
»Vor Freude«, sagte Igor nachdenklich, und so zweideutig klang seine Antwort, dass sie die Gedanken des älteren Fahrers gleich auf sein eigenes Schicksal und dessen Hakenschläge lenkte.
29
Die Mutter war schon in der Küche zugange, machte Frühstück, als sie das Haus betraten. Koljan zog im Flur Schuhe und Jacke aus, ging ins Bad und wusch sich lange das Jod aus dem Gesicht. Dann setzte er sich in Igors Zimmerecke auf die Matratze, auf der er am Ende doch nicht hatte ausschlafen können.
»Nimm, schau sie dir an, präg sie dir ein!« Igor hielt seinem Freund einen Stapel kleiner Fotos
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