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Der Gärtner von Otschakow

Der Gärtner von Otschakow

Titel: Der Gärtner von Otschakow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Ende brachte er Koljans dicke [313] Winterjacke ins Zimmer und zwang ihn, sie anzuziehen und die warme Kapuze mit dem Kunstpelzrand bis auf die Öffnung für die Augen zuzuzurren. Danach brachte Igor aus der Hausapotheke ein Fläschchen Jod, nutzte die plötzliche Kapitulation oder Apathie seines Freundes und bemalte dessen Brauen mit der leuchtend roten Lösung.
    »Man wird denken, du bist ein Säufer und bist verprügelt worden«, sagte Igor und half Koljan beim Aufstehen, damit er sich im Spiegel anschaute.
    »Ich hätte dich nicht erkannt! Ich schwöre!«, sagte er und sah in die dumpfen, leuchtend rot umrandeten Augen im Wandspiegel, die aus der Tiefe der Antischneesturm-Kapuze herausblickten.
    »Jaaa«, machte sein Freund nur. Es klang niedergeschlagen und willenlos. Da erkannte Igor, dass er den Moment nutzen und Koljan nach draußen ziehen musste, bevor der wieder neue Kräfte gesammelt hatte, um sich zu wehren und aktiv vor der unvermeidlichen Zukunft zu fürchten.
    »Und die Tasche? Da drin ist der Computer!« Koljan sah sich noch einmal um, als Igor ihn zum Gartentor schob.
    »Wir kommen in zwei, drei Stunden wieder! Ihr passiert nichts!«
    Den Rest des Weges schwieg Koljan. Zuerst schritt er fast munter aus. Nur die Art, wie er die Gesichtsöffnung der Kapuze festzurrte, verriet seine Furcht. Aber dann, wohl weil es unter der Jacke unerträglich heiß war, lockerte er immer öfter die Schnur, weitete die Gesichtsöffnung und sog gierig die kalte, feuchte Luft ein.
    Der erste Vorortzug war beinah leer. Sie hatten einen ganzen Waggon für sich. Und als sie sich auf die hölzerne [314] Bank gesetzt hatten, zog Koljan für ein paar Augenblicke die Kapuze ab. Sein Gesicht war, dank Igors bisher verborgenem künstlerischen Talent, tatsächlich nicht wiederzuerkennen. Es hatte sich in die universelle Visage des Alkoholikers verwandelt, der nur einen Weg vor sich hat – den unter die Penner und dann weiter, in die winterliche Ewigkeit, in den Schneesturm, aus dem man nicht mehr zurückkehrt. Der Kognak und der Wermut, die Koljan getrunken hatte, halfen da nur. Igor lächelte selbst darüber, was seine Hände und das Jod geschaffen hatten.
    »Hör mal, du bist dir gar nicht ähnlich!«, flüsterte Igor, der sich nicht zurückhalten konnte, seinem Freund ins Ohr.
    »Ich werde mir nie mehr ähnlich sein«, sagte Koljan düster.
    Langsam schien er nüchterner zu werden. Aber Ausnüchtern dauert. Und auch der Fußmarsch vom Bahnhof zur Proresnaja versetzte Koljan noch nicht ganz in den Zustand eines normalen und nüchternen Menschen zurück.
    Als sie an der Oper vorbeikamen, rief Igor den Fotografen an und teilte mit, dass sie in zehn Minuten beim Fotostudio sein würden.
    Der Fotograf erwartete sie schon im Hof, vorm schmiedeeisernen Eingang. Dabei gähnte er. Seine Augen wehrten sich gegen das Licht des beginnenden Tages. Er sah Koljan erschrocken an, aber bei einem Blick zu Igor wurde er weicher, entspannte sich und öffnete die Tür.
    »Es ist alles fast fertig«, sagte der Fotograf. »Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?«
    »Der wird keinem von uns schaden«, stimmte Igor zu.
    Igor der Fotograf hängte seinen wasserdichten Jägerparka [315] an einen Kleiderhaken neben dem Eingang und verschwand hinter der Küchentür.
    Igor winkte Koljan zu sich. Sie betraten das große Zimmer. Igor streckte die Hand zur Wand aus, der Schalter knackte und gleich darauf überflutete Licht den Raum. Vor ihnen gerieten, wie im Wind, die mit Plastikklammern an Leinen hängenden Fotografien in Bewegung.
    »Was ist das?«, murmelte Koljan.
    »Gleich, warte, setz dich schon mal!«, befahl ihm Igor, während sein Blick von einem Bild zum anderen eilte.
    Die Ordnung, in der sie hingen, taugte nicht zu einer virtuellen Exkursion durch Otschakow.
    Igor setzte sich zu Koljan auf das Sofa. »Gleich«, brummte er und fühlte, wie das Gewicht der Erschöpfung ihm auf die Schultern sank. »Wir trinken Kaffee, und dann zeigt er uns alles!«
    Die erzwungene Pause half Igor, sich zu sammeln und herauszufinden, was er wie sehen wollte.
    Der Herr über das Fotostudio war erst von dem Kaffeeduft, dann auch von dem Getränk selbst munter geworden und erfasste die Lage schneller als seine beiden Besucher.
    »Zeigen Sie sie uns der Reihe nach«, bat Igor ihn. »Als Serie, wie sie in der Ausstellung hängen werden…«
    Der Fotograf trank seinen Kaffee aus, tat seine Tatbereitschaft mit einem entschlossenen Nicken kund und begann zwischen den Aufnahmen

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