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Der Gärtner von Otschakow

Der Gärtner von Otschakow

Titel: Der Gärtner von Otschakow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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betrat er schnell das Marktgelände und geriet wie in einen Bienenstock.
    »Genosse Leutnant, probieren Sie den Apfel!« Eine stattliche junge Marktfrau mit runden, geschminkten Lippen schnappte ihn sich sofort mit dem Blick. Der Apfel wurde ihm unter die Nase gehalten. »Süß wie ein Pfirsich!«
    Igor war es, als würde die Stimme der Marktfrau, auch sie »süß wie ein Pfirsich«, ihm Ohr und Wange streifen und kleben bleiben. Er lächelte ein wenig verlegen, ging weiter die zentrale Marktreihe entlang und schüttelte den Kopf.
    [98] Die Klänge, Geräusche, Stimmen und Wörter begannen langsam um Igor herum zu kreisen. Ihm wurde schwindlig. Er blieb stehen und kniff die Augen zusammen. Schlug sie wieder auf. Der Eindruck des Fremdartigen und der verlangsamten Klänge verschwand nicht. Als wäre er, zusammen mit allen Übrigen hier, in einem Aquarium. Nur war es, statt mit Wasser, mit seltsam dicker Luft gefüllt, in der die Körper sich langsamer bewegten und die Wörter gedehnt klangen und länger dauerten, lauter wurden, wenn sie das Ohr erreichten, und sich dann, wie ein Flugzeug fern am Himmel, wieder entfernten und langsam verschwanden.
    Igor steckte sich die Finger in die Ohren und betrachtete die Welt, die für einen Augenblick geräuschlos war. Alles schien ganz normal, die Gesichter der Menschen, ihre Mienen. Bloß an der Kleidung konnte man erkennen, dass er sich im vorigen Jahrhundert befand, daran und an den Waagen und allerhand Kleinigkeiten.
    »Genosse Leutnant, können Sie vielleicht fünfzig Rubel wechseln?«, wandte sich eine Käuferin mit einer Banknote in den dicken Fingern an ihn. Ein großflächiges Gesicht, kastanienbraunes, eingedrehtes Haar und oben noch ein kleiner Dutt.
    »Nein, entschuldigen Sie«, sagte Igor und beschleunigte seine Schritte.
    Er merkte, dass er durch die Gemüsereihe ging. Jemand stieß ihn unabsichtlich in die Seite und entschuldigte sich. Igor wurde es eng und ungemütlich. Als er einen Durchgang zwischen den Reihen sah, lief er schnell hinüber auf eine andere »Handelsstraße«. Hier war es weniger bevölkert, und die Marktfrauen schienen das Verkaufen gelassener zu [99] betreiben. Geduldig betrachteten sie die Vorbeikommenden und boten einem nichts an.
    »Wo ist denn die Fischreihe?«, fragte Igor eine alte Frau hinter einem betonierten Stand, auf dem Bündel gut abgewaschener, frischer Karotten verteilt lagen.
    »Na, da drüben.« Sie deutete mit der Hand weiter nach rechts. »Vor der Milch und dem Käse.«
    Igor begab sich in die angezeigte Richtung. Eigentlich war er ohnehin unterwegs dorthin gewesen, aber jetzt gewannen seine Schritte an Überzeugung.
    Und schon roch es auch in der Luft nach Fisch, eingelegtem und frischem. Beide Gerüche flossen zusammen, und der leichte Wind schien vom Meer her zu kommen und war salzig.
    »Sardellen, Donauhering, vom Don und aus Astrachan! Tritt näher, leck dir schon die Lippen!«, ertönte eine samtig-klangvolle Frauenstimme irgendwo vor ihm.
    ›Sie!‹, dachte Igor und wäre fast vorwärtsgestürmt, bremste sich aber rechtzeitig.
    Da erschienen schon vor ihm die Fischreihen. Von den Dächern der Stände hingen Trauben getrockneter Grundeln und Plötzen. Die Sonne strahlte, und froh summten die Fliegen, die mit den Flügeln in der fischgesättigten Luft badeten. Die Frau, deren Stimme weiter über die Reihe hin tönte, stand vor vier offenen Fässern mit Salzheringen. In der Hand hielt sie einen Fächer aus Birkenzweigen, mit dem sie die Fliegen vertrieb, das tat sie fast graziös und ohne auf den Fisch zu sehen. Sie sah nur auf die Leute und setzte ihr immergleiches Handelslied fort: »Sardellen, Donauhering, vom Don und aus Astrachan! Tritt näher, leck dir schon die Lippen!«
    [100] »Drei Donauheringe.« Vor ihr machte eine alte Frau mit einem Einkaufsnetz halt. In dem großmaschigen Netz lagen ein paar rote Bete, ein Kohlkopf und ein Glas Meerrettich.
    Auch das Lied der Marktfrau machte halt. Aber stiller wurde es ringsum nicht.
    »Flundern von der Mündung! Flundern von der Mündung!«, erscholl etwas weiter eine Stimme, noch samtiger und kräftiger als die der Salzheringsverkäuferin.
    Igor stellte sich auf Zehenspitzen und starrte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Eine Schlange aus fünf Leuten versperrte ihm die Sicht. Igor umging die Schlange und erblickte eine rothaarige junge Frau, stattlich und hochgewachsen. Vielleicht sogar größer als er, Igor, größer als seine einmetersiebzig. ›Oder

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