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Der Gärtner von Otschakow

Der Gärtner von Otschakow

Titel: Der Gärtner von Otschakow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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erinnerte und bis ins Letzte die Muster des Deckchens wiederholte, das den großen Radioempfänger auf dem Schränkchen verhüllte.
    »Ich wollte Ihnen sagen…« Wanja setzte sich ihm gegenüber, mit nachdenklicher Miene. »Gehen Sie allein zum Markt… Es ist nicht gut, wenn man mich mit Ihnen sieht… Bei uns gehen die Milizionäre nur mit denen auf den Markt, die bestohlen wurden – das Gestohlene suchen…«
    »Und wie erkenne ich deine Walja?«
    [95] »Das ist einfach.« Wanja Samochin winkte ab. »Erst hören Sie sie, und dann erkennen Sie sie! So wie sie ist dort keine. Mit einem Wort: rothaarig! Und eine Stimme wie eine Rothaarige…«
    »Wie denn, grob?«
    »Nein, aber laut, eine Marktstimme«, erklärte Wanja. »So eine kräftige, die alles durchdringt.«
    »Und wie komme ich zurück? Hast du vielleicht einen Stadtplan?«
    »Plan? Was für ein Plan?«
    »Na, eine Karte… Eine Karte von Otschakow, mit den Straßen und dem Markt, auf der man dein Haus einzeichnen könnte…«
    »Nein, wir haben hier keine Karte, ist doch alles geheim. Sie wissen sicher, hier gibt es Armee, Flugzeuge und den Hafen… Karten sind bei uns verboten…«
    »Gut, dann mach mir eine Zeichnung, wie man von hier zum Markt kommt, dort finde ich mich schon zurecht…«
    Damit war Wanja einverstanden. Er holte ein Heft und einen Bleistift und begann etwas Seltsames zu zeichnen.
    »Zeichne einfacher, damit ich es verstehe!«, bat Igor.
    »Mhm«, brummte der Bursche, ohne den Blick von seinem Blatt zu heben.
    Endlich war er fertig, riss sorgsam das Blatt aus dem Heft und schob es Igor hin. »Hier, sehen Sie… das ist mein Haus, das ist die Straße…, hier gehen Sie am Park vorbei, und da nach links. Dann immer geradeaus, und Sie kommen hin!«
    »Schreib auch deine Adresse auf, für alle Fälle!«, bat der ›Milizionär‹.
    [96] Wanja fügte die Adresse hinzu und gab das Blatt an Igor zurück. Der studierte den Plan und fand ihn mehr oder weniger verständlich. Er trank seinen Kakao aus.
    »Bleibst du zu Hause?« Igor hob den Blick zu dem Burschen.
    »Ich habe die zweite Schicht, bis zwölf bin ich hier, dann muss ich zur Kellerei…«
    »Was machst du denn dort, außer dass du Wein klaust?«, fragte Igor lächelnd.
    »Ich bin Hilfsarbeiter.« Wanja senkte beschämt den Blick. »Nächstes Frühjahr schicken sie mich auf die Nikolajewer Handels- und Industrieschule, Abteilung Weinbereitung. Ich lerne anständig und werde Weintechniker.«
    »Gut, bleib zu Hause. Vor zwölf bin ich wieder da«, sagte Igor. Er holte seine Mütze, setzte sie auf, sah sich im Spiegel an, nickte Wanja zum Abschied zu und trat vor die Haustür.
    Der Bleistift-Plan ließ sich erstaunlich leicht befolgen. Je näher Igor dem Markt kam, desto mehr Menschen begegneten ihm auf seinem Weg und desto lauter klang ein beinah fröhliches menschliches Gezwitscher in der Luft. Ein paar Unteroffiziere der Luftstreitkräfte fuhren auf Fahrrädern an ihm vorbei, einer winkte Igor zu. Ein nagelneuer brauner Pobeda mit einem rundgesichtigen, rotbackigen Fahrer überholte Igor.
    Am liebsten hätte Igor haltgemacht und eine Weile seine Umgebung betrachtet, sich die Leute und ihre Gesichter angesehen. Alles kam ihm ein klein wenig seltsam vor, gleichzeitig natürlich und unnatürlich, wie alte Wochenschaubilder, die man am Computer koloriert hatte. Aber Igor [97] zügelte diesen Wunsch und seine Neugier, schritt zackig aus und knallte rhythmisch die Stiefelabsätze auf den Gehweg. Endlich entdeckte er das Tor, durch das munteres Volk hinein- und herausströmte, mit Körben die einen, mit Säcken die anderen.
    Rechts vom Tor klebten zwei Männer in dunkelblauen Wattejacken ein buntes Plakat auf eine Anzeigentafel, das einen fliegenden Ballon mit vier Beinen zeigte. Hinter ihnen hängte eine Frau in einem Arbeitskittel von demselben Dunkelblau, einen Besen zu ihren Füßen, eine frische Zeitungsausgabe in einen verglasten Zeitungskasten. Während Igor näher trat, verschloss sie den Kasten und begann, mit einem Lappen das Glas abzureiben, damit es, durchsichtig und sauber, die Leser zur Neugier ermunterte.
    Als er vor dem Plakat stand, begriff Igor, dass der von weitem erblickte »Ballon auf Beinen« in Tat und Wahrheit der erste Sputnik war. Andere Schaulustige blieben neben ihm stehen. Igor nutzte die Gelegenheit und sah sich aufmerksam um. Und entdeckte ganz in der Nähe zwei Milizionäre in genau seiner Uniform. Vor Schreck über ein mögliches Treffen mit den ›Kollegen‹

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