Der Gärtner von Otschakow
erklärte Igor aufgebracht.
»Bei wem?« Waljas Augen und Lippen schienen wieder ganz nah. Nur sahen die Augen Igor so traurig an, dass jetzt gar kein Gedanke an einen Kuss in ihm aufkam.
»Wie heißt der Arzt?«, fragte Igor und fühlte sich als echter Milizionär.
»Lieber nicht.« Walja winkte ab. »Vielleicht liebt er mich, und dass man es heilen kann, denkt er sich nur so aus!«
Nach Mitternacht traf Igor wieder bei Wanjas Haus ein. In der Küche brannte Licht. Am Tisch saß der junge Hausherr und las die Zeitschrift Ogonjok . Als er die Schritte vor der Haustür hörte, legte er die Zeitschrift hin und stand auf.
Die Haustür war nicht verschlossen. Igor trat in die Küche, nickte, und jetzt setzten sie sich zu zweit an den Tisch.
»Vielleicht ein bisschen Wein?«, fragte Wanja. »Bloß, ich nehme keinen. Ich habe schon zwei Gläser getrunken.«
[155] »Weißt du«, Igor griff in die Hosentasche und zog einen Hunderter heraus. »Gibt es bei euch hier eine Poliklinik oder ein Krankenhaus?«
»Ein Krankenhaus.«
»Finde den Arzt, bei dem Walja war. Bring ihm das hier und lass dir von ihm die Krankengeschichte oder einfach die Diagnose geben. Klar?«
Wanja schüttelte den Kopf.
»Du suchst den Arzt, der die rote Walja behandelt, und fragst ihn danach, was sie für eine Krankheit hat! Klar? Er soll es aufschreiben!«
Diesmal begriff Wanja, was man von ihm wollte. Er nickte und ließ den Hunderter in einer Tasche seiner Weste verschwinden.
»Ich lege mich schlafen«, sagte Igor und stand vom Tisch auf. »Ich gehe früh aus dem Haus. In ein paar Tagen komme ich wieder! Gute Nacht!«
Im Zimmer knipste Igor das Licht gar nicht erst an. Er wusste schon auswendig, wo das alte Sofa mit der hohen Rückenlehne stand, wo der Stuhl, wo das Schränkchen. Er zog sich aus, faltete blind die Milizuniform zusammen und legte sie auf den Hocker, dann kroch er unter die warme Wattedecke und schlief ein.
14
Morgens schmerzte Igor der Kopf. Seine Mutter sah ins Schlafzimmer herein, betrachtete nachdenklich ihren dort liegenden Sohn und verschwand wieder hinter der Tür. Am [156] Haus fuhr ein Traktor vorbei, und das Röhren des Traktors trieb Igor aus dem Bett. Eine unzufriedene, schmerzliche Grimasse lag auf seinem Gesicht. Die Welt ringsum füllte sich mit hässlichem, an den Nerven zerrendem Lärm, und wie ein Staubsauger sog Igors Kopf diese Geräusche in sich hinein, mischte sie und schüttelte sie durch, bis alles in ihm dröhnte.
Sein Blick fiel auf die gewohnheitsmäßig und sorgsam gefaltete Milizuniform auf dem Hocker. Er streckte die Hand zum Hocker aus und betastete sie. Die zwei Rubelpäckchen waren an ihrem Platz, auch die goldene Uhr. Und dann ließ für einen Augenblick ein kleiner Gegenstand, der sich wie ein Baldrianfläschchen anfühlte, den Lärm in seinem Kopf verstummen und zwang ihn zum Nachdenken.
Igor zog die Uniformhose unter dem Hemd hervor, schüttelte sie, dass die Hosenbeine sich entrollten, und holte ein schwarzes Filmröhrchen heraus. Dumpf sah er es an, ein feiner, undurchsichtiger Schleier trennte sein Bewusstsein von einer Erklärung: Auf welche Weise war diese Filmpatrone in seine Tasche geraten?
»Bist du aufgestanden?« In der Tür erschien noch einmal das Gesicht seiner Mutter. »Willst du etwas essen? Du bist ja wieder erst gegen Morgen gekommen!«
Igor wandte sich ab. Die Mutter sah ihn besorgt an.
»Du trinkst seit kurzem viel«, sagte sie ohne Vorwurf, aber mit ein wenig zitternder Stimme.
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Nicht viel…«
»Man riecht es aber.« Auch seine Mutter schüttelte jetzt den Kopf. »Hast du vielleicht neue Freunde gefunden?«
Igor versank in Nachdenken. Auf die Frage seiner Mutter antwortete er nicht.
[157] »Ich gehe für ein Stündchen weg, ein paar Dinge erledigen«, sagte sie. »Wenn du essen willst, ist alles im Kühlschrank!«
»Mama, wo ist Stepan?«, fragte Igor plötzlich.
»Stepan? Heute früh war er auf dem Hof, hat die Schaufeln geschärft.«
»Ich fahre vielleicht heute nach Kiew«, sagte Igor und betrachtete den Holzboden, der bald einen neuen Anstrich brauchte. »Nicht für lange… Einen Film entwickeln.«
»Aber du hast doch so ein Ding ohne Film?«, wunderte sich die Mutter.
»Ich habe einen alten Apparat gekauft, für den Film!«, log Igor.
»Und wieso stürzt du dich jetzt so auf Altes? Und diese alte Uniform?« Die Mutter blickte Richtung Hocker.
»Einfach so, Retro-Partys sind doch jetzt Mode…«
Die Mutter
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