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Der Gärtner von Otschakow

Der Gärtner von Otschakow

Titel: Der Gärtner von Otschakow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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sah sich um und bemerkte in einer Marktreihe nebenan Aufregung, Hektik und einen aus Leibeskräften rennenden Jungen, der vor einem Milizionär floh. Er sah die aufgeplusterten Wangen des Milizionärs, der im Laufen in seine Pfeife blies und ungeschickt mit den Armen ruderte, um notfalls jeden auf seinem Weg beiseite zu stoßen, oder im Gegenteil die Aufmerksamkeit der braven Käufer auf den Flüchtigen zu lenken, damit sie halfen, den Dieb zu fangen.
    Igor duckte sich und bog in die nächste Marktreihe ab. Dann schlich er sich unauffällig zur anderen Seite davon. Er kam am Milchpavillon vorbei und sah ein weiteres Tor – den Seiteneingang zum Markt. Er trat hinaus in ein kurzes, [146] kleines Gässchen und stand direkt vor einer Volksbar, die im Erdgeschoss eines zweistöckigen gemauerten Gebäudes eingerichtet war. Er ging hinein, begab sich zur Wodka-Theke und erstarrte, als er dem Blick der Frau dahinter begegnete, der Besorgnis und Empörung ausdrückte. Der Wunsch, fünfzig Gramm zu bestellen, verflog im selben Moment. Er beäugte die Flaschen, die auf dem Regal hinter der Frau standen, sah sich um und bemerkte zwei grau in grau gekleidete Rentner an dem einzigen Tisch.
    »Haben Sie Mineralwasser?«, fragte er vorsichtig.
    »Nur Sodawasser«, antwortete die Frau, und ihre Miene hatte sich erweicht. »Zwanzig Kopeken das Glas.«
    Igor zog einen Hundertrubelschein aus der Hosentasche und hielt ihn der Verkäuferin hin.
    »Haben Sie nicht vielleicht Kopeken? Wir haben doch erst aufgemacht!«
    Igor dachte nach, und ihm fiel ein, wie ihm beim letzten Mal die rote Walja das Wechselgeld in Münzen gegeben hatte. Er griff in seine Tasche, zog eine Handvoll Münzen heraus und reichte sie der Frau, ohne hinzusehen.
    Sie nahm sich das Kleingeld aus der ausgestreckten Hand. Zischend lief das Sodawasser ins Glas.
    Als er wieder aus der Volksbar trat, wischte Igor sich mit dem Hemdsärmel den Mund ab, ohne auf den alten Mann zu achten, der ihm einen erstaunten Blick zuwarf. Er ging bis ans Ende der Straße, stieß auf einen Park mit leuchtend grün gestrichenen Bänken und sah sich um. Er stand eine Weile in Gedanken versunken da, und dann machte er sich wieder auf den Weg, zurück zu Wanja Samochins Haus.
    Nachdem er sich in Wanjas Haus ein paar Stunden [147] tatenlos herumgedrückt hatte, fand Igor mühelos zu der mit Walja verabredeten Zeit in den Park beim Markt zurück. Er spazierte über die asphaltierten Alleen, sog die duftende herbstliche Küstenluft ein, beobachtete unauffällig die vorübergehenden, in ihr Leben und ihre Gedanken vertieften Otschakower. Dann setzte er sich auf die dritte Bank am Anfang der Allee, zum Markt hin. Begutachtete sein Hemd, warf einen Blick auf die sauberen, wie eben erst gebügelten Hosen, die Stiefel, die jetzt ungeheuer bequem schienen, wie von einem erfahrenen Schuster auf Maß gefertigt. ›Sie waren doch ein paar Nummern zu groß?‹, fiel es Igor ein. Und dann zuckte er die Acheln. Dass die Stiefel geschrumpft waren, war nicht das Erstaunlichste von allem, was Igor in der letzten Zeit widerfuhr. Das Erstaunlichste war, dass er im Jahr 1957 auf eine Verabredung wartete, mit einer verheirateten Frau, einer Marktfrau, die vermutlich auch nachts nach Fisch roch. Mit einer schönen, jungen, rothaarigen Frau, so einer, die man wohl ein »Teufelsweib« nannte.
    Igor warf einen Blick Richtung Markt. Gleichzeitig zog er mit der Linken die goldene Uhr aus der Tasche, öffnete den gravierten Schutzdeckel. Die Uhr zeigte sechs. Mit der anderen Hand fuhr er über das sich in der rechten Hosentasche wölbende Hundertrubel-Päckchen.
    ›Wohin könnte man mit ihr gehen?‹, überlegte Igor. Das Geld ließ ihm keine Ruhe. Denn ausgeben konnte er dieses Geld nur hier, nur jetzt. Dort oben oder unten – Gott weiß, wo sich physisch jetzt seine Zeit, sein Jahr 2010 befand – waren all diese Scheine vielleicht ein bisschen was wert, aber kaufen konnte man für sie nur das Lächeln eines Verkäufers, und auch das nur, falls der Sinn für Humor hatte.
    [148] Eine Frau in einem ziemlich eleganten, mausgrauen Wollmantel mit hochgestelltem Kragen schwebte würdevoll vorüber.
    Sie blieb stehen und betrachtete den Milizionär freundlich, mit einem Lächeln.
    »Wie geht es Pjotr Mironowitsch?«, fragte sie.
    Igor geriet kurz aus der Fassung. Aber nur kurz.
    »Bei ihm ist alles in Ordnung«, antwortete er der Frau, ebenfalls mit einem freundlichen Lächeln, hinter dem sich seine plötzliche Anspannung

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