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Der Gärtner von Otschakow

Der Gärtner von Otschakow

Titel: Der Gärtner von Otschakow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Schaufenster zur Straße. Große, erlesene Schwarzweißfotografien hingen in diesen Fenstern, und begeistert vertiefte Igor sich darin: Jedes winzige Detail konnte man deutlich sehen. Menschen, Häuser, alles auf den Bildern war heutig, das Schwarzweiß der Fotos aber unterstrich die Zeitlosigkeit des Dargestellten und brachte Igor dazu, in den Bildern einen zweiten, zusätzlichen, oder vielleicht ihren eigentlichen, aber etwas verborgenen Sinn zu suchen. Farbfotos erfreuen oder zerstreuen einen einfach. Sie regen selten zum Nachdenken an. Bei Schwarzweißfotos ist das ganz anders. Igor hatte das sofort gespürt, kaum war sein Blick auf das erste Bild hinter der Scheibe gefallen.
    Nachdem er sich an den Fotografien sattgesehen hatte, suchte Igor den Eingang zum Atelier. Der lag, wie sich herausstellte, hinten im Hof.
    In diesem Atelier gab es keinen Ladentisch, genauso wenig wie irgendwelche Entwicklungs-und-Ausdruck-Maschinen. Die Räumlichkeiten erinnerten eher an eine Wohnung. Die Luft im Innern, reich an Mentholzigaretten- und [161] Kaffeedüften, verriet die Bestimmung eines Raumes gleich links, dessen weiße Tür weit offen stand. Dort war eine Küche. Zur rechten Seite, zwei Stufen hinunter und durch eine offene Flügeltür, lag ein geräumiges Zimmer mit zwei Sofas und zwei Sesseln, alles um einen großen Sofatisch mit runder Tischplatte aus dickem Glas herum gruppiert. Auf der Tischplatte lagen zwei identische Fotoalben. Eines in Folie eingeschweißt, das zweite nicht. Auf dem Umschlag sah man eine der Fotografien, die im Schaufenster des Ateliers ausgestellt waren.
    »Zu wem möchten Sie?«, erschreckte ihn von hinten eine leise Frauenstimme.
    Igor fuhr herum und sah eine kleine, etwa vierzigjährige Frau vor sich, eine Tasse frischgekochten Kaffee in der Hand. Kurzes, aschfarbenes Haar, Ohrstecker mit türkisem Stein, ein dunkelblaues Hausgewand und ganz und gar häusliche, flauschige Pantoffeln an den Füßen. Igor fühlte sich äußerst unwohl. Als wäre er, ohne zu fragen, in irgendjemandes Zuhause hineinspaziert.
    »Ich habe mich wohl geirrt«, stotterte er und zog, als Beweis für seinen Irrtum, die Filmpatrone aus der Jackentasche. »Ich dachte, hier… bei Ihnen… wäre ein Fotostudio…«
    Igor wollte schon an der Frau vorbei zum Ausgang, aber ihr belustigter Blick, der auf die Filmpatrone gefallen war, hielt ihn zurück.
    »Darf ich?«, fragte sie und streckte ihre freie Hand nach der Patrone aus.
    »Natürlich!«
    »Setzen Sie sich!« Sie wies den Gast mit einer Kopfbewegung zu den Sesseln und Sofas. Und ging selbst voraus, stellte [162] ihren Kaffee auf die Tischplatte, setzte sich in einen Sessel und hielt die Patrone näher vor die Augen.
    »Glauben Sie, er ist nicht entwickelt?« Die Frau hob den Blick zu Igor.
    »Ich glaube, nicht.«
    »Stammt das von Ihren Eltern?«
    »Was?« Igor begriff nicht.
    »Ich dachte, dass Sie das vielleicht in den Sachen Ihrer Eltern gefunden haben«, sagte sie, und ihre Stimme wurde samtiger und weicher. »Ich habe eines Tages in einer Handtasche meiner Mutter drei nicht entwickelte Filme gefunden… Auf einem davon gab es Fotos aus Jewpatorija in den siebziger Jahren, von mir und meinem Bruder. Ich war damals fünf, er sieben…«
    Igor lauschte und nickte. »Kann man ihn denn entwickeln?«, fragte er plötzlich.
    »Natürlich«, antwortete die Frau. »In einer halben Stunde kommt mein Mann zurück. Er ist der Fotograf, ich helfe nur. Reden Sie mit ihm.«
    Der Mann hieß ebenfalls Igor. Er war ein angenehmer, kleiner, sehniger Mann. Die beiden oberen Knöpfe an seinem karierten, in die Jeans gesteckten Hemd waren offen, darüber trug er ein abgewetztes graues Jackett.
    »Ich mache nur Qualitätsarbeit, und das ist teuer«, sagte er sofort. »Sie können in irgendeinen Hobbyfotografen-Club gehen und mit den Alten etwas aushandeln, die mit antiquarischen Apparaten fotografieren. Oder Sie können den Film hierlassen. Garantie gebe ich nicht, der Preis für Entwickeln und Abzüge beträgt hundert Dollar.«
    »Hundert Dollar?«, staunte Igor.
    [163] »Eigentlich mindestens zweihundertfünfzig. Alle Chemikalien sind professionelle Importware, Spezialpapier und so weiter. Hundert habe ich für Sie als Privatmann gesagt. Vielleicht«, er wies mit dem Kopf auf den Film, »ist er belichtet, oder jemand hat einfach irgendeinen Unsinn geknipst. Deshalb überlegen Sie: Brauchen Sie das wirklich?« Igor der Fotograf sah seinem Gast neugierig-fragend direkt in die Augen, als

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