Der Gärtner von Otschakow
Sie gehen!«
Sie trank den Tee aus, lief, noch immer dankbar lächelnd, [217] in den Flur und machte sich für den Markt fertig. Auch Igor ging hinaus und sah die vier schweren Taschen mit den Dreiliterflaschen Wein.
»Tragen Sie etwa das alles allein?«, staunte er.
»Ach, ich trage das nicht das erste Jahr.« Sie zuckte die Achseln und betrachtete gleichmütig ihre Fracht.
»Kaufen Sie doch einen Karren oder irgendein Wägelchen«, empfahl Igor. »Dann ist es bequemer!«
»Oh, nein.« Wanjas Mutter winkte ab. »Die Leute werden noch denken, wir wären Spekulanten! Leicht leben! So ist es schwerer, aber dafür ist das Geld auch ehrlicher erarbeitet.«
Die Logik dieser Ausführungen erschien Igor seltsam, doch gleichzeitig ganz klar, als würde ein Teil von ihm den Argumenten der Frau zustimmen, und ein anderer Teil sie fast zum Lachen finden und sich doch weigern, über sie zu lachen.
Probehalber hob Igor zwei Taschen an und fühlte sich wie ein Schwächling, so schwer kamen sie ihm vor. Wie wollte sie nur alle vier tragen? Zwei in jeder Hand? Igor sah auf ihre Hände. Die wirkten eher rund und weich als muskulös. Ja, äußerlich war sie kräftig, aber eher von der massigen, schweren Art.
»Ich helfe Ihnen.« Igor deutete mit dem Kinn auf die Taschen. »Wie können Sie solche Gewichte schleppen?!«
Kurz darauf traten sie auf die Straße. Alexandra Marinowna war es, im Unterschied zu ihrem Sohn, eindeutig überhaupt nicht peinlich, die Hilfe des Milizionärs anzunehmen. Sie trug ihre zwei Taschen leicht und geübt. Igor, der seine Untauglichkeit für körperliche Arbeit spürte, kam [218] kaum hinterher. Auch er trug zwei Taschen, mit je drei Dreiliterflaschen Wein darin, und seinen Beutel mit der Arznei für Walja. Schon schmerzten Handgelenke und Schultern. Neidvoll starrte er auf den Rücken von Wanjas Mutter. Ein paar Passanten, die ihnen begegneten, grüßten Alexandra Marinowna ehrerbietig und schielten etwas erstaunt in seine Richtung, wodurch Igor sich noch unwohler fühlte, als wäre er das Hündchen dieser großen starken Frau, ihr Pudel oder Dackel, dazu verurteilt, ihr überallhin zu folgen und mit dem Schwänzchen zu wedeln. Er hätte gern Pause gemacht und Atem geschöpft, aber sie zog ihre Bahn, ohne anzuhalten. Igor wagte nicht, sie um eine Verschnaufpause zu bitten. Das hätte bedeutet, sich zum Verlierer zu erklären, vor einer Frau zu kapitulieren. Und da bemerkte er auch noch, dass ihm, mit roten Fähnchen in den Händen, zwei Dutzend Kinder und ihre Erzieherin entgegenkamen. Die Erzieherin war jung und schön, von einer anständigen Lehrerinnen-Schönheit. Ein offenes Gesicht, lebhafter Blick, ein feines kleines Näschen. Ein fliederfarbener Trägerrock mit schmalem Gürtel aus dem gleichen fliederfarbenen Stoff unterstrich ihre Taille.
»Abteilung, halt!«, kommandierte sie laut, und die Kleinen blieben ordentlich stehen.
»Da, seht ihr, was Milizionäre tun?«, fragte sie und blickte dabei freundlich auf den näherkommenden Igor, der mit Mühe weiter lächelte.
»Sie helfen älteren Menschen«, antwortete ein kleines Mädchen mit zwei großen weißen Schleifen im Haar.
»Richtig!«, sagte die Erzieherin. »Und wer von den Jungen möchte Milizionär werden?«
[219] Ein paar kleine Jungs hoben sofort die Hände mit den roten Fähnchen. Jetzt erkannte Igor auf den Fähnchen kleine goldene Hämmer und Sicheln.
»Und du, Kaschtschenko?«, fragte die Erzieherin.
In dem Moment ging Igor, ohne stehenzubleiben, an der Erzieherin und den Kindern vorbei und warf einen Blick auf den dicklichen Jungen mit den leicht hervorquellenden Augen.
»Ich werde Erbauer«, antwortete der Kleine.
»Abteilung, marsch!«, erklang wieder die Stimme der Erzieherin hinter Igors Rücken.
Der Kinderlärm verstummte oder wurde von dem näherkommenden Lärm des Marktes überlagert. Als Alexandra Marinowna ihren Stand erreicht hatte, stellte sie die Taschen vor den Ladentisch und schob sie mit dem Fuß darunter.
»Ach, vielen Dank!«, seufzte sie.
Ihr Gesicht war nass von Schweiß. Das beruhigte Igor ein wenig, dessen Arme, von den Taschen befreit, wie Hochspannungsleitungen vibrierten.
»Wenn Sie ins Haus müssen«, Wanjas Mutter ging zum Flüstern über, »heben Sie die Tür am Griff ein bisschen hoch und ziehen Sie sie zu sich her. Dann geht sie auf!«
»Nein, ich komme erst abends wieder«, antwortete Igor, verabschiedete sich und trat ein Stück zur Seite.
Dort blieb er stehen, erholte sich und
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