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Der Gärtner von Otschakow

Der Gärtner von Otschakow

Titel: Der Gärtner von Otschakow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Zum x-ten Mal kehrte dieser Gedanke wieder. Aber jetzt verlangte er seine sofortige Umsetzung.
    Entschieden erhob Igor sich von der Bank. Nahm seinen Stoffbeutel, fasste nach dem trockenen, kalten Griff der Pistole im offenen Halfter. Und ging los.
    Er kannte den Weg nicht, aber die Beine oder die Stiefel [238] kannten ihn, führten ihn zuerst zum Markt und dann zur Kosta-Chetagurow-Straße, in der Fima Tschagin wohnte.
    Igor blieb an derselben Stelle stehen wie damals, auf der anderen Straßenseite gegenüber von Tschagins Gartentor, so dass auch die Haustür mit den drei Stufen gut zu sehen war.
    Kein Licht brannte in den Fenstern, aber etwas schien heller an der Ecke des Hauses. Und Igor ging ein paar Schritte nach rechts und sah, dass ein seitliches Fenster erleuchtet war. Schwach nur, so dass das Licht kaum zur Straße drang.
    Noch einmal prüfte Igor, ob sein Halfter offen war. Die Berührung der Finger mit dem kalten Metall des Pistolengriffs gab ihm Selbstvertrauen. Er überquerte die Straße, trat durch das Gartentörchen und bog geduckt um die rechte Hausecke. Unter dem erleuchteten Fenster verharrte er und lauschte. Stille. Keinerlei Stimmen oder Geräusche. Er ging in die Hocke, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und hielt den Atem an. Die Kälte der Mauer kroch in sein feuchtes Hemd.
    Was sollte er jetzt tun? Mit der Pistole in der Hand ins Haus stürmen? Ans Fenster klopfen? Wieder flogen Igors Gedanken wie aufgescheuchte Wespen durch seinen Kopf.
    Nein, Hineinstürmen ging nicht. Er musste versuchen, mit ihm zu reden. Ruhig, unter Männern.
    Die Stille begann an Igors Nerven zu zerren. Er wusste nicht, wie spät es war. Er hatte diesmal die goldene Uhr nicht mitgenommen nach Otschakow. Er wusste nicht, wann es Morgen wurde. Er wusste nicht, was er, jetzt oder später, tun sollte.
    Und plötzlich der rettende Strohhalm, dank dem man [239] unter Wasser atmen kann. In der Dunkelheit erklangen Schritte und undeutliche Männerstimmen.
    Die Schritte näherten sich. Das Gartentörchen fiel zu.
    »Man muss es seiner Mutter sagen«, sagte eine schon einmal gehörte, heisere Stimme.
    »Lieber nicht, sie wird es schon selbst begreifen«, antwortete die Stimme Fimas. »Kommst du mit rein?«
    »Einen Teufel werde ich tun! Nimm die Schaufel!«
    Metall klirrte gegen den Beton vor der Haustür. Die Haustür öffnete sich knarrend, gleichzeitig fiel das Gartentor wieder zu.
    Igor freute sich, dass Fima allein ins Haus gegangen war. Mit einem allein war leichter zu reden, und man musste seine Augen nicht überall haben. Er rief sich alle eben gehörten Geräusche ins Gedächtnis. Kein Riegel oder Schloss hatte geknirscht. Schloss Fima etwa seine Haustür nicht ab? War sie gar nicht abgeschlossen gewesen?
    Über Igors Kopf, hinter dem erleuchteten Fenster, ertönten häusliche Geräusche. Ein Flaschenboden knallte auf die Tischplatte, dann plätscherte eine Flüssigkeit.
    ›Am besten jetzt‹, dachte Igor.
    Er sprang auf, wunderte sich dabei selbst über seine Energie, holte die Rubel aus dem Stoffbeutel und verteilte sie in seiner Hose. Den leeren Beutel ließ er unterm Fenster liegen, schlich zur Hausecke, stieg die Stufen hoch und zog vorsichtig an der Haustür. Sie schien ganz einfach aufzugehen, aber als er schon die Hand in den Türspalt schieben konnte, stockte sie, als würde eine Kette oder ein Haken sie blockieren. Schnell griff Igor ins Dunkel und stieß auf einen langen Türhaken. Er hob ihn an, befreite ihn aus dem an die Tür [240] genagelten Ring, riss die Tür auf, trat ein und hörte gleich darauf eilige Schritte. Er drehte sich um und schloss die Tür hinter sich. Ein Lämpchen flammte an der Decke des Vorzimmers auf. Das plötzlich herunterfallende Licht blendete Igor kurz. Vor ihm stand, in zwei Metern Entfernung, mit eingefrorenem bösem Gesichtsausdruck, Fima. In der Rechten hielt er ein leeres großes Glas, die unsichtbare, intensive Wärme gerade getrunkenen Wodkas ging von ihm aus. Die Finger seiner Linken waren gespreizt, als hätte er gerade nach etwas greifen wollen. Wahrscheinlich nach einem kleinen Happen zum Wodka. Plötzlich belebte sich sein Blick und blieb an Igors offenem Halfter hängen.
    »Ich möchte mit dir reden«, sagte Igor gepresst.
    »Über was?«, fragte Fima.
    »Wie, ›über was‹?«
    »Über was wolltest du reden? Über Sanja, den du umgebracht hast?«
    »Nein.« Igor schüttelte den Kopf. Fimas Langsamkeit half ihm, seine Gedanken zu sammeln. »Über Walja… Ich

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