Der Gamma-Stoff
möglichstes tun.
Der Regen hatte fast aufgehört, aber Flowers zog seinen Mantel am Kragen zusammen. Die schwarze Tasche war im Wagen, aber sogar ein Aufschimmern seiner weißen Jacke war hier gefährlich. Man mußte immer damit rechnen, plötzlich Straßenräubern gegenüberzustehen oder auch einem gewöhnlichen Bürger, der besonderen Groll hegte.
Flowers ging schnell an dem breiten Fenster vorbei, durch den gelben Lichtschein, den Kopf mit dem kurzgeschorenen Haar gebeugt. Seine rechte Hand ruhte auf der Manteltasche, wo er die beruhigenden Umrisse der Nadelpistole fühlte.
Das Hausnummernschild über der Tür war längst verschwunden. Flowers betrat durch die Luftschleuse das hell erleuchtete Lokal. Der Kellner war ein stiernackiger Stadtbewohner mit einer gebrochenen und schlecht zusammengeheilten Nase; vom Haaransatz bis zum Hals verlief eine lange Narbe. Er trug eine schmutzigweiße Jacke, eine deutliche Imitation der Uniform eines Arztes.
Er sog nachlässig an einer Zigarette, die zwischen seinen dicken Fingern fast verschwand. Flowers verzog angeekelt das Gesicht. Nicht genug, daß die Stadtbewohner im schmutzigen Meer leben mußten; sie fügten noch Karzinogene hinzu.
Flowers stellte automatisch die Diagnose für den rattengesichtigen Gast: Schilddrüsenüberfunktion. Blutüberdruck. Er gab ihm noch fünf Jahre. Der Gast beäugt Flowers von der Seite, während er aus einer Schale etwas in seinen schiefen Mund löffelte.
»Was wollen Sie?« fragte der Kellner eifrig. »Wir haben ein neues Gesundheitsmenü, ein Aufbaumittel frisch vom Labor – alle bekannten Vitamine, dazu Spurenelemente, Eisen und einen neuen geheimen Zusatz in medizinischem Alkohol. Wollen Sie die Laborberichte sehen?«
»Nein«, begann Flowers, »was ich –«
»Konzentrierten Fruchtsaft?« fuhr der Kellner fort. »Gemüsesaft? Ich habe einen Extrakt hier, in dem achtzehn verschiedene Gemüsearten enthalten sind. Ein Glas liefert den gesamten Wochenbedarf von elf Vitaminen, acht Mineralien und –«
»Ich möchte nur –«
»Hören Sie«, sagte der Kellner mit vertraulichem Flüstern, »ich habe etwas unter der Theke – echten Kentucky Bourbon Whisky, keine Vitamine, keine Mineralien.«
»Ich möchte nur die Adresse wissen«, sagte Flowers.
Der Kellner sah ihn verständnislos an. Dann deutete er in die Richtung, aus der Flowers gekommen war.
»Da drüben liegt Benton.«
»Danke«, erwiderte Flowers kalt. Er wandte sich zur Tür, während ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief, dann trat er in die Nacht hinaus.
»Psst!« zischte es hinter ihm.
Flowers schaute sich um. Der Mann mit dem Nagetiergesicht war ihm nachgeeilt. Flowers blieb stehen.
»Wohin wollen Sie? Vielleicht kann ich Ihnen Bescheid sagen.«
Flowers zögerte. »Tenth Street«, sagte er. »Block dreiviernullnull.« Was konnte diese Auskunft schaden?
»Zwei Straßen weit nach Osten, dann links. Sie verläuft direkt nach Norden«, flüsterte der Mann. Flowers bedankte sich und wandte sich ab. Eben war ihm aufgefallen, daß der Mann keine Filter in der Nase trug; er wurde verlegen.
»Hören Sie«, sagte der Mann schnell, »brauchen Sie Penicillin?«
Flowers stand einen Augenblick wie angewurzelt, zu überrascht, um etwas tun zu können. Dann verschwand seine rechte Hand in der Tasche, um den Pistolenkolben zu umklammern, während die linke an seinem Gürtel zwei Tasten drückte. Er lauschte angestrengt und hörte, wie der Motor der Ambulanz anlief.
»Was haben Sie gesagt?« fragte er.
»Penicillin«, wiederholte der andere. »Direkt vom Labor und zu günstigem Preis.«
»Wieviel?«
»Ein Dollar pro Hunderttausend. Schauen Sie.« Er streckte die schmutzige Hand aus. Das gelbliche Licht aus dem Lokal ließ die Ampulle in seiner Handfläche hervortreten.
»Hier sind dreihunderttausend Einheiten. Stellen Sie sich vor, daß Sie heute nacht eine Infektion bekommen. Das kann Ihr Tod sein. Mit der kleinen Ampulle sind Sie gesichert. Drei Dollar, was?«
Flowers starrte die Ampulle neugierig an. Das Penicillin mußte stark verdünnt sein. Ein Dollar pro hunderttausend Einheiten – das lag unter dem Großhandelspreis.
Der Händler rollte die Ampulle auf der Hand hin und her. »Drei Dollar, und ich gebe eine Spritze dazu. Mehr kann man wirklich nicht verlangen. Na ja« – er zog die Hand zurück, als wolle er sie in die Tasche stecken und weggehen – »es ist ja schließlich Ihr Leben. Dann landen Sie eben im Krankenhaus.«
Flowers trat in die Dunkelheit
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