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Der Gamma-Stoff

Der Gamma-Stoff

Titel: Der Gamma-Stoff Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Gunn
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gaben Öffnungen in den Mauern der Fabriken frei. Arbeiter strömten auf die Straße hinaus: Männer und Frauen, Kinder und alte Leute, Kranke und Starke. Und doch sahen sie in gewisser Hinsicht alle gleich aus. Sie waren zerlumpt, schmutzig und krank; sie waren Stadtbewohner.
    Eigentlich hätten sie bedrückt erscheinen müssen, aber sie waren recht glücklich. Sie schauten zum blauen Himmel hinauf, wenn der Nebel vom Fluß noch nicht herangekommen war, und lachten ganz ohne Grund. Die Kinder jagten sich zwischen den Beinen ihrer Eltern, schreiend und kichernd. Sogar die alten Leute pflegten nachsichtig zu lächeln.
    Es waren die gesunden Edelleute, die ernsthaft und besorgt waren. Nun, natürlich. Die Unwissenheit kann glücklich sein; die Bürger brauchten sich über gute Gesundheit oder Unsterblichkeit keine Gedanken zu machen. Das lag jenseits ihrer Möglichkeiten. Sie konnten an einem Sommertag wie die Eintagsfliegen erscheinen, die fröhlich umherflattern und sterben. Aber die Erkenntnis mußte sich sorgen; die Unsterblichkeit hatte ihren Preis.
    Harry fühlte sich stets besser, wenn er daran dachte. Die großen Horden von Bürgern ohne jede Chance von Unsterblichkeit zu sehen, ließ ihn seine Vorteile mit Verlegenheit betrachten. Er war, weit von den Krankheiten und krebserregenden Stoffen der Stadt entfernt, in einer Vorortvilla der Stadt aufgewachsen. Von Kindheit an hatte er sich der ärztlichen Pflege erfreut. Er war vier Jahre in der Oberschule gewesen, acht Jahre auf der medizinischen Hochschule und hatte jetzt fast drei Jahre praktische Ausbildung hinter sich. Das verlieh ihm auf dem Weg zur Unsterblichkeit einen Vorsprung. Es war nur in der Ordnung, daß er dafür mit Sorgen bezahlte.
    Woher kamen sie nur alle? Sie müssen sich in ihren Höhlen wie die Kaninchen vermehren, dachte er. Wohin gingen sie alle? Zurück in die Ruinen der Stadt – wie Ratten und Ungeziefer.
    Er schauerte. Sie schienen fast einer anderen Spezies anzugehören.
    Heute abend lachten und sangen sie jedoch nicht. Sogar die Kinder blieben stumm. Sie marschierten ernst die Straße entlang, und man hörte fast nur das Trappeln ihrer nackten Füße auf dem geborstenen Pflaster. Sogar an der Blutbank blieb es verhältnismäßig ruhig.
    Harry zuckte die Achseln. Manchmal benahmen sie sich so. Der Grund war meistens albern – eine Bandenauseinandersetzung, Schwierigkeiten mit der Firma, irgendein geheimnisvoller religiöser Ritus, der sich nicht ausmerzen ließ. Vielleicht hing es mit den Mondphasen zusammen.
    Er kehrte in die Klinik zurück, um sich vorzubereiten. Die erste Patientin war eine junge Frau, ein anziehendes Wesen, mit langem, blondem Haar und üppigem Körper, wenn man den Schmutz und ihren Geruch zu ignorieren vermochte.
    Er widerstand der Versuchung, sie sich ausziehen zu lassen. Nicht wegen der Konsequenzen – was bedeutete die Keuschheit eines Bürgers? Sie war etwas Mythisches wie das Einhorn. Außerdem erwarteten sie das. Den Geschichten nach, die andere Ärzte erzählten, schienen sie oft nur aus diesem Grund die Klinik aufzusuchen. Aber es hatte keinen Zweck, sich selbst in Versuchung zu führen. Er würde sich tagelang schmutzig vorkommen.
    Sie schnatterte, wie sie es alle taten. Sie haben gegen die Natur gesündigt. Sie habe nicht genug Schlaf gehabt. Sie habe ihre Vitamine nicht regelmäßig genommen. Sie habe für eine Nierenentzündung auf ungesetzlichem Wege Terramycin gekauft. Es war alles so bekannt und so langweilig.
    »Aha«, murmelte er immer wieder. Und dann: »Ich werde jetzt die Diagnose stellen. Haben Sie keine Angst.«
    Er schaltete die Diagnosemaschine ein. Ein Blutdruckmeßband kroch wie eine Schlange unter dem Sofa hervor und legte sich um ihren Arm. Ein Mundstück glitt zwischen ihre Lippen. Ein Stethoskop zählte ihren Puls. Eine Schädelkappe preßte sich auf ihren Kopf. Metallhütchen schoben sich über ihre Finger. Metallketten umspannten ihre Knöchel, ein Band wand sich um ihre Hüften. Die Maschine stach, entnahm Proben, zählte, maß, lauschte, verglich, prüfte.
    Nach wenigen Augenblicken war alles vorbei. Harry hatte seine Diagnose.
    »Verheiratet?« fragte er.
    »Was?« fragte sie zögernd.
    »Ich würde lieber keine Zeit mehr verlieren. Sie bekommen ein Kind.«
    Ihr Gesicht hellte sich auf.
    »Was! Ist das alles! Ich dachte, es ist vielleicht ein Tumor. Wird es ein Junge oder ein Mädchen, Doktor?«
    »Ein Junge«, sagte Harry müde. Diese Weiber! Warum ärgerte er sich immer

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