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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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Aber ob Dylan nun die Qualifikationen mitbrachte, um als Autor des Songs zu gelten, oder eben nicht, der widerwärtige Song bauschte die Einsamkeit noch auf: Wenn man ihn hörte, war er jedes Mal ein Spiegel, der das eigene Gesicht katastrophal nahebrachte und einen zwang, dem grauen Fleisch der eigenen Tränensäcke und den blutunterlaufenen Dottern der eigenen Augen zu begegnen. Das gelang ihm, obwohl er jeden Zuhörer für offiziell unsichtbar erklärte.
    War das also schlussendlich Tommys Kummer und seine Klage? Nur wenn er sich vormachte, seine Kunst hätte auf einer tieferen Ebene mit dem Leben zu tun, als er das im Moment tat. Verärgert war er weniger im eigenen Namen als stellvertretend für Van Ronk, Clayton und so viele andere, die von den verdrossenen Salven aus allen Radios verschluckt und wieder ausgespien, in den Schatten gestellt und verrissenwurden. Denn was war es bloß, sich für den Teil eines Stimmenkaders zu halten, einer Zone, einer Szene, eines Felds des Engagements, das von seinem Umfang und seinem Einfluss definiert wurde – was war es bloß, ein folk zu sein? Und wenn das nicht, was dann ? Was war es bloß, das Tommy nicht mal vor sich selbst in Worte fassen konnte?
    Aber das, was da gerade kollabiert war, war auch die Skizze, wie eine bessere Welt aussehen mochte. Tommy glaubte daran, auch wenn es peinlich war, das zuzugeben. Aber wenn er sich, so flüchtig sein eigenes Talent auch sein mochte, über seine Zugehörigkeit zu einer kollektiven Sprachfindung definierte, die weit tiefer war als die eines einzelnen Sängers, dann musste nicht jeder dritte Satz lauten warst du je Dylans Vorgruppe hast du Dylan mal getroffen war Dylan da kommt Dylan war es wie bei Dylan ich glaube ich hab Dylan gesehen er ist ein zweitklassiger Dylan ein Dylan ist er nicht gerade und warum reißen wir nicht alle Schilder ab und taufen jede einzelne Straße Dylan Street . Dylan Ecke Dylan wo ich Dylan zum ersten Mal gesehen hab, aber den sieht man jetzt nicht mehr oft, oder? Deinesgleichen jedenfalls nicht. War es besser oder schlimmer, bei der Erfindung des Prinzlings und Trottels dabeigewesen zu sein? Den kollektiven Anteil zu erkennen, der sich in jeder einzelnen Äußerung von Bobby verbarg, oder über all das, was er verschlungen hatte, in himmlischer Ahnungslosigkeit hinwegzuhören?
    »We Didn’t Open for Him, He Opened for Us (You Cunt)«.
    Aber Tommy war nicht einmal zur Antipathie imstande. Er fand in sich nicht die Überzeugung, dass es seine Aufgabe war, diese versunkene Welt – die er überhaupt erst als Empfänger der Vorladung seines Guten Bruders Rye betreten hatte, sich in Greenwich Village gefälligst seinen Anteil an Beatnik-Muschis zu holen – zu bewahren oder zu verteidigen. Auf diese Weise beschimpft zu werden, mochte Phil Ochs’ Privileg sein. Nicht das eines Gogan Boy, der sich vorschnell auf den Solopfad begeben hatte. Die Situation war einfach. Tommy hatte sich ein Ticket besorgt. Tommy war der Zutritt gestattet worden. Jetzt ging die Vorstellung zu Ende. Tommy Gogan war siebenundzwanzigJahre alt und brauchte einen neuen Auftritt. Beim nächsten konnte es ebensogut um Ziegel wie um eine Gitarre gehen. Er hörte nicht, was andere in der neuen Musik hörten, und nahm an, dass sie bloß so taten, als hörten sie es. Die rauh geschrammelten Klangtravestien, an denen sich Bobby jetzt mitschuldig gemacht hatte. Alles Engagement hatte sich aus den Songs verflüchtigt. Auch die Lyrik war in Rauch aufgegangen. Als Tommy die beiden Animals oder Swines hinter ihren Sonnenbrillen kichern sah, überkam ihn eine Gewissheit: Ihre Stärke lag in ihrer Anzahl. Dem Plural: Byrds oder Weasels. Er hatte die Antwort auf das Kollektivrätsel der Folkszene gefunden: Warum stopfte Bobby seine Musik voll mit Mike Bloomfield und dem Typen, der das elektrische Klavier misshandelte? Das war keine authentische musikalische Epiphanie, die Entscheidung verriet den Hunger nach Kollegen, danach, eigene Beatles zu bilden. Dylan, der die ganze Welt auf seine eigene Person eingedampft hatte, hatte entsetzliche Angst vor der Isolierung.
    Man musste nicht völlig unbekannt sein, um es zu erkennen, aber Tommy verdankte seiner Fähigkeit zur Erkenntnis einen entscheidenden Vorteil: Er war einsam. Er hätte ein Gogan Boy bleiben sollen. Eine Wendung von Rose ging ihm durch den Kopf. Seit er sie zum ersten Mal gehört hatte, war sie nie ganz weggewesen. Ein rätselhafter Satz, aber vielleicht wünschte er sich das auch

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