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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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viele – aus Rostock, aus Leipzig, aus Orten, die man sich dank der Fotos in Life nur als Ruinen und Schuttpaläste vorstellen konnte, die nichts anderes verdient hatten. Die Briefe hätten aus einer Maschine kommen können, die deutsche Briefmarken und Poststempel nachahmte und auf dem Saturn oder dem Mond aufgestellt worden war, Regionen, die weit weniger unwahrscheinlich waren als das Nachkriegs-Rostock. Die Umschläge waren eindeutig geöffnet und wieder zugeklebt worden, bevor sie Roses Briefkasten erreichten. Albert hatte sich zu guter Letzt anscheinend für Hoovers Schwarze Liste qualifiziert – darauf wäre er stolz gewesen. Die Mutter zerknüllte die spärlichenSeiten und warf sie in den Müll, die Tochter nahm die Umschläge und löste mit Wasserdampf die Briefmarken ab.
    Rund ein Jahr nach seiner Flucht errichtete Rose ihren Schrein, das halbrunde Tischchen in der Küche, auf dem die sechs Bände von Sandburgs Lincoln hinter einem Kamee-Porträt des Präsidenten aufgereiht wurden, das Rose von ihren Schwestern als gemeinsames Geschenk zum 30. Geburtstag erhalten hatte. Albert zog aus, und Lincoln zog ein.
    Roses Kommunismus, der Kernquotient aus Wissen und Glauben, hielt auch in Alberts Abwesenheit, hielt auch in der Abwesenheit jeder Unterstützung. Anders als Alberts Kommunismus brauchte er keine Kultivierung von Eitelkeiten, keine Freude an Papprhetorik. Als sowohl ihre Ehe als auch die Volksfront zerbröckelten, blieb Rose in die harten Umrisse ihrer privaten Gewissheiten geätzt zurück. Als Hitler nach der nächsten Kehrtwende Russland überfiel, zählte Rose nicht zu denen, die unachtsam wurden und sich wieder von öffentlichen Gewissheiten vergiften ließen.
    Man redete nicht, man las. Man arbeitete. Besuchte Treffen, prahlte aber nicht damit, übernahm kleine Aufträge, nahm an Versammlungen zu Mieterrechten teil oder ging in Jugendclubs. Trat unerschütterlich für die Bildung von Betriebsräten, die Verstaatlichung der Industrie und die Bildung der Massen ein, brachte das aber nicht in den Fanfaronaden der Volksfront zum Ausdruck, sondern im Geiste beharrlicher Nachbarschaftshilfe – engagierte sich für die Queensboro Public Library und die Polizeigewerkschaft, brachte ein irisches Kind über eine Straße, die es allein nie im Leben überquert hätte, und machte es mit einem Stück Pizza bekannt. Roses Kommunismus in den Kriegsjahren glich dem ihr zugeteilten Heft mit Lebensmittelmarken, das sie ebenso wie das für die kleine Miriam jedes in einer eigenen Brieftasche aus weichem Kalbsleder aufbewahrte, eine Ironie ganz eigener Art, wenn es nirgends Rindfleisch gab. Für das politische Selbst galt dasselbe wie für die Lebensmittelmarken: Man riss ein kleines Viereck der eigenen Identität ab, legte es nur bei Bedarf vor und hortete denRest in der Hoffnung, der Vorrat würde reichen, bis die Belagerung vorbei war.
    Das White Castle am Queens Boulevard bot während der Lebensmittelknappheit keine Burger an, aber die Büroangestellten von Real’s Radish & Pickle hatten sich so daran gewöhnt, mittags dort am Tresen zu stehen, dass sie trotzdem hingingen und hartgekochte Eier vorgesetzt bekamen. Als der Krieg dann vorbei war und es statt der Eier wieder Burger gab, war die Welt trotzdem nicht mehr dieselbe. Rose hatte einen anderen Krieg geführt als der Rest der Welt, aber in einer Hinsicht war er gleich: Er hatte sie amerikanischer gemacht.
    Roses Vetter zweiten Grades, Lenin Angrush, war zur gleichen Zeit von der Flamme, aber auch von der Krankheit des Sozialismus angesteckt worden, deren Symptom darin bestand, jeden x-beliebigen Zuhörer mit den eigenen Überzeugungen in Grund und Boden zu reden. Lenny war zu offenherzig, hatte einen Geist wie eine große Pore. Neben manch anderem hatte Ida, Salmans Frau, nicht verhindern können, dass diese Geistespore den örtlichen Dialekt annahm – Rose brachte sie vor die Tür ihres privaten Sprachlehrers an der Greenpoint Avenue, aber Ida sah die Notwendigkeit nicht ein. Trotz seiner avancierten und esoterischen Steckenpferde – Weltrevolution, Schach und Numismatik – eignete sich Lenny die Ausdrucksweise eines Maronen-Verkäufers an, redete wie ein Eismann oder ein Kopf, der aus einem Gully auftaucht. Kein Kind von Rose sollte volljährig werden und die Zunge der Fershlugginer von Queens sprechen, die sich vom Stigma des Brooklyner Dialekts vor allem durch seine nörgelnden und lethargischen Untertöne unterschied.
    Apropos Eismänner

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