Der Gast des Kalifen
sondern blickte zu den Sternen empor und dachte an den Schwarzen Stamm. Immer wieder und wieder betete ich, dass der Herr mich für würdig erachten möge, die Reliquie zu retten. Während dieser Gebete fühlte ich dieselbe Gegenwart wie in Ghazis Zelt... ein wahrhaft seltsames Gefühl. Einmal, daheim in Schottland, hatte ich so etwas Ähnliches im Wald gefühlt. Damals kniete ich an einem Bach, um meinen Durst zu stillen, als ich plötzlich glaubte, jemand würde sich mir nähern, und
als ich mich daraufhin umdrehte, sah ich in der Tat eine Wildkatze, die ein gutes Dutzend Schritt von mir entfernt auf dem Weg hockte.
Schlank, wild, mächtig und mit angespannten Muskeln kauerte die prächtige Kreatur unter einem Baum und hielt den Kopfgesenkt. Ihre goldenen Augen schienen förmlich zu brennen, während sie die neue Beute musterte. Jetzt hatte ich ein ähnliches Gefühl - als belauere mich jemand von großer Macht und Grazie, und dieser jemand war sehr nah und musterte mich mit feurigem Blick.
Ich blickte durch das stille Lager zum Zelt des Emirs, das nur als Schatten vor dem von Sternen erleuchteten Himmel zu erkennen war. Niemand rührte sich; nirgends war auch nur ein Geräusch zu hören.
Das Nächste, an das ich mich erinnere, ist, dass ich plötzlich auf meinen Beinen stand und auf das Zelt des Emirs zuhielt. Die Wachen schliefen; niemand rief mir zu stehen zu bleiben. Und dann war ich drin. Eine kleine Lampe hing am Mittelpfosten und warf ihr waberndes Licht auf den Berg von Schätzen, mit dem der Emir seine vielen Gäste zu beeindrucken pflegte. Ich hörte das ruhige Schnaufen des schlafenden Emirs auf seinem mit dicken Kissen bedeckten Bett im angrenzenden Raum; nur ein dünnes Stück Stoff trennte uns voneinander.
Seltsamerweise fürchtete ich mich nicht vor Entdeckung, auch wenn diese ohne Zweifel meine sofortige Hinrichtung zur Folge gehabt hätte. Tatsächlich war ich sogar von solcher Ruhe, dass mich ein Gefühl heiterer Freude überkam, während ich die verschiedenen Gegenstände im Schatzhaufen des Emirs beiseite schob, um das Heilige Kreuz freizulegen. Ich nahm einen Schatz nach dem anderen, legte ihn aufden Boden, und dann . lag die unschätzbare Reliquie vor mir.
»O König des Himmels, zeige deine Größe durch deinen Diener«, flüsterte ich.
Ich hatte einfach das Erste ausgesprochen, was mir in den Sinn gekommen war, doch kaum hatten die Worte meinen Mund ver-
lassen, da, Wunder über Wunder, verschwamm das Zelt um mich herum. Es schien, als bestünde das Zelt mit einem Mal aus einem feinen, durchsichtigen Stoff, wie eine Art Schleier, durch den ich das ganze Lager überblicken konnte. Doch war es nicht das Lager, was ich sah, sondern eine geschäftige Straße, die zu den Mauern einer großen Stadt führte.
Während ich noch versuchte, dem allen einen Sinn zu entnehmen, erscholl ein Schrei aus Richtung der Stadt. Ich blickte zu den riesigen Mauern und sah eine große Menschenmenge aus den weit offenen Toren strömen.
Mit einem Heulen wie Hunde, die Blut gerochen haben, ergoss sich diese dunkle, tobende Flut fast ebenso schnell aus der Stadt, wie sich die blauschwarzen Sturmwolken über ihren Köpfen am gelben Himmel sammelten. Die Wolken schienen in der stickigen Wüstenluft förmlich zu kochen, und in weiter Ferne hörte ich ein Donnern.
Es waren noch andere in der Nähe. Sie standen neben der Straße und warteten, bis die Menge vorüber war. Rasch gesellte ich mich zu ihnen, um zu sehen, was da vor sich ging. Die Menschenmenge kam näher und erreichte schon bald den Ort, wo ich stand. Da sah ich, dass sie irgendeinen armen Kerl vor sich her trieben. Die Arme des Mannes waren an einen groben Holzbalken gebunden, und wenn er stürzte, rissen sie ihn an den Enden des Balkens wieder hoch und stießen und schoben ihn weiter.
Die Menschen waren so sehr mit dem armen Mann beschäftigt, dass sie mir keinerlei Beachtung schenkten. Es schien mir ein mörderischer Haufen zu sein: größtenteils schmutzige Bettler und Straßenschläger, auch wenn man hier und da in dem zerlumpten Mob einen Goldring funkeln sah, eine Silberbrosche oder die hoch aufragende Spitze eines guten Hutes, was mir verriet, dass auch einige Wohlhabendere an dem Schauspiel teilnahmen - ebenso wie auch einige Soldaten in römischen Rüstungen.
Als sie an mir vorüberkamen, stolperte der Gefangene erneut und fiel zu Boden. Jene, die die Menge anführten, rissen ihn wieder in die Höhe, und der Mann zuckte vor Schmerzen
Weitere Kostenlose Bücher