Der Gast: Roman
Spiegel, dann wieder ihren Pferdeschwanz, dann ihr Gesicht, kleiner und weiter entfernt. »Meinst du, es geht endlos so weiter?«, fragte Sue.
»Sehr wahrscheinlich«, sagte Neal.
Sie lachte und stieß ihn mit der Schulter an, und die Bewegung setzte sich in den Tiefen der Spiegel fort.
Der Aufzug hielt, und die Türen glitten langsam auseinander. Neal und Sue nahmen ihr Gepäck und traten hinaus. Der Flur war leer.
Sue lief voraus. Als sie ihre Zimmertür gefunden hatte, lehnte sie sich mit überkreuzten Beinen daneben an die Wand. »Brauchst du den ganzen Tag?«, fragte sie.
»Warum hast du es so eilig?«
»Ich will sehen, was wir bekommen haben.«
Neal stellte seinen Koffer vor der Tür ab. Er zog die beiden Schlüssel aus der Hosentasche. »Willst du einen?«, fragte er.
»Klar.« Doch Sue hatte keine Hand frei. Sie fletschte die Zähne und ließ sie ein paarmal aufeinanderschnappen.
»Ich stecke dir keinen Schlüssel in den Mund. Er ist bestimmt schmutzig.«
»Mein Mund oder der Schlüssel?«
»Ich meinte den Schlüssel, aber …«
»Also gut. Ich schwöre, dass ich ab sofort nicht mehr fluche wie unbedingt nötig.« Sie grinste. »Lässt du uns jetzt rein? Hier rumstehen bringt doch nix. Äh, nichts .«
Neal sah sie verwundert an. Sie hatte sich wie schon vorhin vor dem Fahrstuhl korrigiert. Er schloss die Tür auf und sagte: »Von mir aus kannst du sprechen, wie du willst.«
»Tja, es ist nicht gerade schmeichelhaft, wenn man ein ungebildeter Hohlkopf genannt wird.«
»Das habe ich nur zu Marta gesagt, damit … ich habe es nicht so gemeint. Das weißt du doch. Du warst in mir.«
»Doch, du hast es so gemeint. Du magst mich nur trotzdem. Obwohl ich spreche wie ein Trottel.«
»Du bist okay so, wie du bist.« Er öffnete die Tür.
Sie trat ins Zimmer. »Guck dir das an!«
Neal ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Er war schon in vielen Motelzimmern gewesen und auch in denen einiger guter Hotels. Doch noch nie in einem so großen. Und noch nie in einem so altmodischen. Die Tapete, die Bilder, die Kommode, die Lampen, die Stühle und die Läufer, die an einigen Stellen auf dem dunklen glänzenden Dielenboden lagen – alles wirkte antik. Auch die Himmelbetten sahen aus, als stammten sie aus den Tagen des Goldrauschs.
Sue warf ihr Gepäck auf das kleinere der beiden Betten und lief zum Bad. Im Türrahmen blieb sie stehen und sagte: »Nicht zu fassen.« Sie klang eher skeptisch als beeindruckt.
Neal stellte seinen Koffer ab und ging zu ihr.
»Was ist das denn?« Sue nickte zur Toilette.
Der weiße Porzellantank befand sich knapp unter der Decke statt hinter dem Toilettensitz. Eine Kette mit einem Holzgriff baumelte davon herab.
»Ich glaube, sie wollten es so authentisch wie möglich gestalten«, sagte Neal.
»Meinst du, das Ding funktioniert?«
»Schätze schon. Sonst gäbe es eine ziemliche Sauerei.«
Sue stieß ihn mit dem Ellbogen an.
»Außerdem«, sagte er, »sehen die Rohre neu aus.«
»Hm.« Sie schlenderte am Waschbecken vorbei und an einem Spiegel, der die ganze Länge der Wand einnahm und wie der im Aufzug golden gesprenkelt war, und blieb neben der Badewanne stehen.
Es war eine große frei stehende Wanne mit Klauenfüßen. Dahinter hing ein Vorhang an einer Schiene, die sich an der Decke entlangschlängelte wie eine ausgediente Carrerabahn. »Was muss man damit machen?«, fragte Sue.
»Wenn man duschen will?«
Sie warf Neal einen kritischen Blick zu. »Ja.«
»Du musst einfach den Vorhang um die Wanne herumziehen. Aber achte darauf, dass er innen hängt.«
»Für mich sieht das total seltsam aus. Wahrscheinlich klebt er einem an der Haut. Vielleicht bade ich lieber.«
»Jetzt?«
»Klar. Das macht frisch.«
»Was ist mit The Fort?«
»Willst du dich nicht kurz ausruhen, bevor wir rüber…, äh, hinübergehen?«
»Keine schlechte Idee. Ich bin ziemlich müde. Ich könnte ein Nickerchen gebrauchen.«
»Gut. Du ruhst dich aus, und ich nehme ein Bad. Dann gehen wir zu The Fort. Vielleicht so in einer Stunde?«
»Einverstanden.«
»Am besten gehst du zuerst.«
Er zog fragend die Brauen hoch.
Sie nickte zur Toilette. »Ich weiß, dass du musst.«
Er zog eine Grimasse, und sie lachte.
Ein paar Minuten später lag er barfuß auf dem Bett und hörte, wie im Bad das Wasser zu laufen begann. Schnell zog er das Armband aus der Tasche und streifte es sich über.
Warum nicht? Gleiches Recht für alle. Sie hat es bei mir getan …
Als Neal hörte, wie die Tür
Weitere Kostenlose Bücher