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Der Gast: Roman

Der Gast: Roman

Titel: Der Gast: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Laymon
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hören. Ich liebe dich auch. Also, kommst du jetzt?«
    »Leibhaftig?«
    »Lass deinen Leib im Sessel.«
    »Ich … ich möchte es wirklich nicht mit dem Armband tun.«
    »Es wird toll. Probier es einfach und warte ab, was …«
    »Es verstößt gegen die Regeln.«
    »Weil du mich liebst.«
    »Stimmt.«
    »Aber ich hab es bei dir benutzt.«
    »Du hast auch einen gefälschten Führerschein. Das bedeutet nicht, dass ich auch einen haben sollte.«
    »Hast du Angst?«
    »Nein. Ich halte es bloß für keine so gute Idee.« Er wusste, dass sie eine Begründung hören wollte. Nachdem er einen Augenblick darüber nachgedacht hatte, sagte er: »Was ist, wenn ich in dich komme und herausfinde, dass ich dich nicht mag?«
    »Das ist unwahrscheinlich.«
    »Aber wer weiß? Vielleicht ist in deinem Kopf so ein Gewirr von verrückten Gedanken und miserabler Sprache, dass ich am liebsten laut schreien und für immer weglaufen würde.«
    Sue lachte leise.
    »Jedenfalls«, sagte Neal, »haben wir keine Chance, diese Keuschheitsnummer durchzuziehen, wenn ich in deinem Kopf bin. Deshalb sollten wir es lieber vergessen, okay? Vielleicht sind wir morgen Abend wieder in meiner Wohnung. Dann können wir tun, was wir wollen.«
    »Tja, wie du meinst.«
    »Ich finde, wir sollten versuchen zu schlafen.«
    »Okay. Nacht.«
    »Nacht.«
    »Schlaf gut.«
    »Du auch.«
    »Träum was Schönes.«
    Neal konnte nicht einschlafen. Der Sessel war weich und bequem, aber er musste ständig an Sue denken. Er war versucht, zu ihr zu gehen. Und er war auch versucht, Elises Regeln zu brechen und Sue mit dem Armband zu besuchen.
    Er stellte sich vor, wie es wäre.
    Oft dachte er auch an Marta.
    Liebte er sie nicht mehr? Er glaubte es nicht. Doch wie konnte er sich dann in Sue verlieben?
    Wollte er Marta verlieren?
    Sie wird mich hassen, sobald sie über mich und Sue Bescheid weiß.
    Er stellte sich vor, wie sie tobte: »Du Schwein! Wie konntest du mir das antun?«
    Natürlich hatte sie sich noch nie so benommen.
    Man konnte nicht wissen, wie sie reagieren würde: enttäuscht, empört, flehend, gepeinigt, teilnahmslos, mutig, versöhnlich …
    Egal wie, dachte Neal, es wird auf jeden Fall schlimm.
    Ich könnte sie behalten, wenn ich Sue abserviere.
    Ich serviere Sue nicht ab.
    Er dachte daran, dass sie nur ein paar Meter von ihm entfernt schlief. Er wollte zu ihr gehen.
    Doch er wusste, er würde es nicht tun.
    Und er wusste, dass er, so aufgewühlt wie er war, wahrscheinlich die halbe Nacht wach liegen würde.
    Schließlich küsste er, um der Situation zu entfliehen, das Armband.
    Als seine Lippen den Schlangenkopf berührten, hatte er keine Ahnung, wo er hingehen wollte. Irgendwohin. Weg von hier. Weg von den Versuchungen, dem schlechten Gewissen und den Sorgen.
    Einen Augenblick nachdem er das warme Gold des Armbands an seinen Lippen gespürt hatte, glitt er aus seinem Körper. Während er zur Decke schwebte, sah er Sues Kopf und ihre nackten Schultern – grau im trüben Licht, das durch die Vorhänge über dem Sofa sickerte.
    Wenn ich versuche, dort hinauszugehen, lande ich womöglich in ihr.
    Um das zu vermeiden, bewegte er sich in die entgegengesetzte Richtung. Er glitt durch Martas gerahmte Seenlandschaft, die von dem Maler Robert Malcolm Rucker signiert war; durch die Wand; durch einen Küchenschrank mit Tellern und Schüsseln. Unter der Küchendecke schwebend sah er horizontale Streifen von Licht und Schatten im Raum. Er folgte ihnen und raste durch die hölzerne Jalousie und die Fensterscheibe hinaus.
    Als er plötzlich hoch über der Gasse flog, fürchtete er hinabzufallen und geriet kurz in Panik.
    Es ist schon zu lange her, dass ich es zum letzten Mal getan habe, dachte er. Wegen Sue. Seit sie es in die Finger bekommen hat, habe ich das Armband nicht mehr benutzt.
    Wann war das letzte Mal? Der Ausflug zu Karen? War das wirklich das letzte Mal? Montagnacht?
    Er hatte das Gefühl, dass das nicht stimmte.
    Dann erinnerte er sich, wie er auf dem Boden der Herrentoilette in Sunny’s Café gesessen und vorgehabt hatte, sich mithilfe des Armbands Sue anzusehen, doch in dem Polizisten auf der anderen Seite der Tür gelandet war. Der Typ mit dem Dünnschiss.
    Das war das letzte Mal gewesen. So eine Pleite, dass es eigentlich nicht zählte.
    Warum tue ich das überhaupt?, fragte er sich.
    Im Rückblick waren all seine Armbandreisen auf die eine oder andere Weise Katastrophen gewesen.
    Außer die erste.
    Die Probereise mit Elise.
    Das war wundervoll gewesen,

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