Der Gast: Roman
beruhigen.
»Ich habe dich geweckt, oder?«
»Macht nichts«, sagte sie. »Ich bin nur froh, dass du wieder da bist.«
Sein Blick folgte ihrem Arm zu der unter der Decke verborgenen Schulter, dann wanderte er hinab zu ihrer Brust. Sie war durch das Verrutschen der Decke ganz unschuldig entblößt worden. Im Schatten schimmerte sie bronzefarben. Bei jeder Bewegung des Arms wippte sie ein wenig.
»Ich war kurz davor, dich zurückzuholen«, sagte sie. »Dir das Armband abzunehmen. Das hätte funktioniert, oder?«
»Ja.«
»Hab ich mir gedacht.«
»Warum hast du es nicht getan?«
»Ich dachte, du musst selbst entscheiden, wann du zurückkommst. Ich wollte mich nicht einmischen.«
»Also bist du bei mir geblieben und hast mich beobachtet?«
Sie nickte. »Ich wollte dich im Auge behalten, falls irgendwas richtig schiefgeht. Außerdem tu ich dich gern ansehen. Es war nur ein bisschen quälend, weil ich gesehen hab, dass du ein unangenehmes Erlebnis hattest.«
»Vorsichtig ausgedrückt.«
»Du hättest in mich kommen sollen«, erklärte sie.
Neal sah ihr in die Augen. »Woher weißt du, dass ich nicht in dir war?«
»Aus ungefähr fünfzehn Gründen. Erstens hast du nicht gelächelt.«
»Ich habe ihn gefunden.«
Sues Hand fiel auf Neals Schulter. »Ihn? Rasputin?«
»Ja.«
»Wahnsinn.« Ihre Augen weiteten sich, der Kopf wippte leicht vor und zurück.
»Er heißt nicht Rasputin, sein Name ist Leslie Glitt.«
Sie verzog das Gesicht. »Wie?«
»Leslie Glitt.«
»Leslie ist ein Mädchenname.«
»Leslie Howard war ein Mann.«
»Nie von ihm gehört.«
»Er war toll. Der versteinerte Wald? Mit Bogart?«
Sue schüttelte den Kopf.
»Und er hat Ashley Wilkes in Vom Winde verweht gespielt.«
»Den hab ich gesehen«, sagte Sue. »Also, was ist passiert?«
»Er wurde im Zweiten Weltkrieg mit seinem Flugzeug abgeschossen.«
»Nicht der Leslie, dein Leslie. Wie hast du gesagt war sein Nachname?«
»Glitt.«
»Klingt fies.«
Neal schüttelte den Kopf.
»Also, was war los?«, fragte Sue. »Hast du ihm einen Besuch abgestattet?«
»Ja, allerdings.«
»Kein Wunder, dass du ständig geschrien hast.«
»Es war nur zweimal, oder?«
»Hm … kann sein. Ich bin von einem Schrei aufgewacht, ungefähr vor einer halben Stunde. Ich dachte zuerst, du hättest einen Albtraum. Aber du hast die ganze Zeit gezappelt und gekeucht …«
»Habe ich etwas gesagt«, fragte er.
»Du hast vor dich hingemurmelt, aber ich konnte nix verstehen. Meistens hast du gejapst und gewimmert. Jedenfalls bin ich aufgestanden und zu dir, um nachzusehen, was los ist. Dann hab ich die Lampe angemacht und das Armband gesehen und mir gedacht, du musst unterwegs sein.«
»Ich musste hier raus«, erklärte Neal. »Ich konnte nicht schlafen. Ich bin fast durchgedreht.«
Sues Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln. »Hoffentlich war das nicht meine Schuld.«
»Größtenteils schon.«
»Wieso?«
»Ich wollte zu dir.«
»Das ist schön.«
»Aber wir hatten uns dagegen entschieden.«
»Und das hat dich wahnsinnig gemacht, was?«
»Ja.«
»Ich wünschte, du wärst mit dem Armband zu mir gekommen.«
»Ich auch. Mein Gott, ich hatte ja keine Ahnung … In ihm zu sein, war als … würde man durch eine Kloake kriechen.«
»Willst du es mir erzählen?«, fragte sie.
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Hast du noch eine Verabredung?«
»Ja. Mit Godot.«
Sie zog die Brauen hoch. »Was?«
»Nichts. Das war nur ein Witz. Ein schlechter literarischer Witz.«
Sie kniff die Augen zusammen und brummte: »Hmmm.« Dann zog sie ihren Arm zurück. Beim Aufstehen wickelte sie die Decke um sich zu. »Komm doch aus deinem Sessel. Wir können im Moment sowieso nicht schlafen. Komm mit rüber.« Sie wandte sich ab und ging zum Sofa.
Neal stand auf. Seine Decke lag zerknüllt auf dem Boden. Er hob sie auf und warf sie auf den Sessel.
Sue ließ sich, von Kopf bis Fuß in die Decke gewickelt, auf das Sofa sinken, lehnte sich zurück und legte die nackten Füße auf den Wohnzimmertisch.
Neal streckte sich und ächzte.
Als er zu Sue ging, schlug sie die Beine übereinander und sagte: »Du musst mir ein paar Bücher geben. Dann les ich sie alle und weiß, wovon du redest, wenn du mal wieder literarisch wirst.«
»Okay.« Er setzte sich neben sie.
»Wir können uns auch gegenseitig vorlesen.«
»Es wäre toll, wenn du mir True Grit vorlesen würdest.«
»Besorg mir das Buch, dann mach ich es. Und jetzt erzähl mir alles, was heute Nacht mit dir und
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