Der Gast: Roman
unter der Dusche abstattet.
Als er seine Taschen geleert hatte, zog er Schuhe, Socken, Shorts und Unterhose aus.
Es kam ihm seltsam vor, nackt im Haus einer Fremden zu stehen.
Wir sind uns eigentlich gar nicht richtig fremd, sagte er sich. Ich habe ihr das Leben gerettet.
Er konnte das entfernte Rauschen des Wassers in dem anderen Badezimmer hören.
Sie ist ebenfalls nackt, dachte er. Wir sind beide nackt.
Nur durch ein paar Wände und Türen getrennt.
Er stellte sich vor, wie sie unter der anderen Dusche stand, Wasser an ihr hinabströmte, ihre Haut glänzte.
Was würde sie tun, wenn ich zu ihr ginge?
Er grinste und schüttelte den Kopf.
Auf keinen Fall, dachte er. Und falls sie versucht, zu mir zu kommen, muss sie das Schloss knacken.
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Als Neal zu Ende geduscht hatte, konnte er in Elises Bad kein Wasser mehr laufen hören. Er trocknete sich ab und passte auf, nicht mit dem Handtuch die Abschürfungen an Knien und Ellbogen zu berühren. Diese Stellen tupfte er mit Toilettenpapier trocken. Die Wunden schienen ein wenig zu nässen, doch es war nicht allzu schlimm.
Ein leises Klopfen an der Tür ließ ihn zusammenzucken.
»Ich bin’s«, sagte Elise.
Er schnappte sich den Bademantel vom Haken.
»Wenn du fertig bist«, fuhr Elise fort, »lass deine Klamotten einfach da liegen, ich werde …«
Neal schlüpfte in den Mantel. »Einen Moment.« Er zog ihn zu und verknotete den Gürtel. »Ich gebe sie dir jetzt gleich.« Er öffnete die Tür.
Elise lächelte. »Gutes Timing.« Sie sah herrlich frisch und sauber aus. Ihr kurzes Haar war feucht und glänzend und ordentlich gekämmt, ihr Gesicht von der Dusche ein wenig gerötet. Sie trug einen blauen Satinpyjama. Auf dem Oberteil waren ein paar feuchte Flecken. »Was ist?«, fragte sie.
Er zuckte mit den Schultern. »Nichts. Du siehst aus … als wäre nichts gewesen.«
»Du müsstest mal die ganzen Pflaster unter meinem Pyjama sehen. Lass mich rein, dann sammle ich deine Sachen ein.«
»Ich mach das schon«, sagte er.
»Nein, nein. Geh zur Bar und mix dir einen Drink. Ich habe dir schon das Licht angeschaltet. Im Flur gleich die nächste Tür. Du kannst es nicht übersehen. Ich bin in ein paar Minuten bei dir. Für mich einen Wodka mit Tonic, ja?«
»Also …« Er überlegte, ob es eine Möglichkeit gäbe, unauffällig seine Unterhose von dem kleinen Kleiderhaufen auf dem Badezimmerboden zu retten. Der Gedanke, dass Elise sie aufhob, war ihm irgendwie peinlich.
»Hopp, hopp, kratz die Kurve.«
»Lass mich meine Unterhose und meine Socken mitnehmen«, murmelte er.
»Die sind bei mir gut aufgehoben. Ich versprech’s dir. Und jetzt geh mir aus dem Weg, Kumpel.«
Neal errötete und trat grinsend und kopfschüttelnd zur Seite. Sie kam ins Bad.
Okay, sagte er sich. Was soll’s, vergiss es.
Das erste Zimmer, das vom Flur abging, war beleuchtet, genau wie sie es gesagt hatte. Eine L-förmige Theke nahm die Ecke vor den Schiebetüren zum Pool ein. Davor standen vier gepolsterte Barhocker.
Neal ging zur Bar. Der Teppich unter seinen nackten Füßen fühlte sich dick und weich an. Nur eine Glasscheibe trennte ihn von dem Pool, doch er konnte nicht viel davon erkennen. Das Glas reflektierte wie ein schwarzer Spiegel das Wohnzimmer und Neal in seinem weißen Bademantel.
Er wirkte ein wenig durchsichtig. Und alles andere auch.
Der Anblick gefiel ihm nicht.
Er fragte sich, ob jemand auf der anderen Seite stand und hineinglotzte.
Neal drehte sich um und ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Dort standen ein langer Wohnzimmertisch aus Eichenholz, ein großes, sehr gemütlich wirkendes Sofa, mehrere Lampen und ein paar Liegesessel. Der Großteil der Wände wurde von Bücherregalen eingenommen. Gegenüber dem Sofa befand sich ein Fernseher, dessen Bildschirm ungefähr viermal so groß war wie der von Neals eigenem.
Mann, dachte er, wie es wohl wäre, auf dem Teil Videos anzusehen!
Das wäre eine Belohnung, bei der ich in Versuchung geraten könnte.
Aber ich werde es nicht tun. Ich werde nichts annehmen. Es wäre nicht richtig.
Ehe er hinter die Bar trat, packte er den Griff der Schiebetür und zog daran. Die Tür glitt zur Seite.
Mein Gott, dachte er. Schließt sie eigentlich nirgendwo ab? Sie kann froh sein, dass sie überhaupt so lange überlebt hat.
Er schloss die Tür und verriegelte sie.
Dann ging er um die Theke herum. Dahinter gab es Regale mit Gläsern und Flaschen, eine Spüle und einen kleinen Kühlschrank. Er nahm zwei Gläser. Im
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