Der Gast: Roman
zumindest.
Trotzdem war es gespenstisch. Er konnte alles so deutlich sehen und hören, als flöge er in seinem eigenen Körper durch die Luft. Er war in der Lage, klar zu denken. Er hatte auch vielerlei Empfindungen: Angst, Hoffnung und eine merkwürdige Erregung.
Die Geschwindigkeit konnte er jedoch nicht wahrnehmen. Er spürte keinen Schub, keine Beschleunigung, kein Ziehen. Er fühlte nicht das Brausen des Windes im Gesicht, während er durch die Nacht jagte.
Die Bewegung war ihm nur bewusst, weil er die Gebäude und Laternen, die Bäume und Plakatwände, die parkenden Autos und die Straßen unter sich hinwegziehen sah.
Er raste über den Pico Boulevard hinweg. Überlegte, ob er ihm nach Westen zum Bundy folgen sollte, bemerkte dann aber, dass er schon über dem Olympic war.
Nimm den Wilshire zum Bundy, sagte er sich.
Wenige Sekunden später wandte er sich nach links und schoss westlich über das Herz von Beverly Hills hinweg, vielleicht fünfzehn oder zwanzig Meter über dem Asphalt des Wilshire Boulevard.
Nicht viel los da unten.
Er versuchte mit reiner Willenskraft, weiter zu beschleunigen, doch es ging nicht schneller. Wahrscheinlich ist das Maximum erreicht, dachte er.
Als er den San Diego Freeway überquerte, begann er abzusinken.
Was ist los?
Du wirst langsamer.
Scheiße!
Es fühlte sich fast an, als hinge er an einer elastischen Schnur – einer Schnur, die zurück bis zu seinem Körper in dem parkenden Auto reichte. Wie ein Gummiband, das zuerst schlaff war und sich nun gespannt hatte. Er konnte zwar weiterfliegen, aber nur gegen diesen Widerstand.
Elise hatte gesagt, dass die Entfernung begrenzt sei.
Jetzt wusste Neal, was sie gemeint hatte.
Aber sie war fünfzig Kilometer weit gereist, oder?
Dafür hat sie auch lange geübt, erinnerte er sich. Das war ihr Rekord.
Wenn sie fünfzig geschafft hat, schaffe ich zehn oder fünfzehn.
Unter ihm lag bereits der San Vicente Boulevard; er erkannte die breite Verkehrsinsel in der Mitte.
Er bog vom Bundy nach Westen ab und flog tiefer. Während er knapp über der Fahrbahn des San Vicente dahinraste, hielt er Ausschau nach kleinen Seitenstraßen zu seiner Rechten. Und entdeckte Elises Straße, Greenhaven. Er schoss um die Ecke. Folgte der schmalen Straße, ohne den Lieferwagen zu sehen.
Vielleicht war es falscher Alarm, dachte er.
Neal bog scharf von der Straße ab auf Elises Haus zu. Er flog durch Büsche und Bäume – spürte sie jedoch nicht. Sie fühlten sich nicht anders an als die Luft.
Was bin ich, ein Geist?
Er drang durch die Mauern von Elises Haus.
Fand sie vor dem Spiegel in einem Badezimmer, das er bisher noch nicht gesehen hatte. Das Bad, das vom Schlafzimmer abgeht, vermutete er. Dort, wo sie geduscht hat. Jetzt putzte sie sich die Zähne.
Er glitt in sie hinein.
Ja!
Neal war erleichtert, dass sie in Sicherheit war, und es amüsierte ihn, dass sie betrunken war. Sie musste noch einen Wodka-Tonic – oder mehrere – getrunken haben, nachdem er gegangen war.
Ihre Gedanken waren verschwommen. Und ihre zahlreichen Verletzungen taten ihr nicht mehr besonders weh.
Sie hatte den Mund voller aufgeschäumter Zahncreme mit Pfefferminzgeschmack und bearbeitete mit der Bürste Zähne und Zahnfleisch. Anscheinend war sie fröhlich.
Do-de-do-do, dum-de-dum. What shall we do with the drunken sailor? O Mann, o Mann, das gibt einen Schädel morgen.
Sie nahm die Zahnbürste aus dem Mund, grinste sich selbst im Spiegel an und ließ den weißen Schaum über Lippen und Kinn rinnen. Er fiel in dicken Tropfen ins Waschbecken – plopp, plopp, plopp. Dann spuckte sie den Rest aus, hielt die Zahnbürste unter den Wasserhahn und putzte sich noch einmal mit der sauberen Bürste die Zähne.
Ich sollte lieber ein paar Aspirin nehmen. Sonst habe ich morgen einen tierischen Brummschädel. Ich hätte nach einem oder zweien aufhören sollen. Ach, was soll’s. Man wird ja nicht jede Nacht entführt, gequält und um ein Haar ermordet. Gott sei Dank gibt es Neal.
Wie nett, dachte Neal.
Hoffentlich gerät er mit dem Armband nicht in Schwierigkeiten. Vielleicht hätte ich es ihm nicht geben sollen … Ach, er wird schon klarkommen. Ich wünschte, er wäre dageblieben. Süßer Junge. Wie gewonnen, so zerronnen. Aber er kommt bestimmt zurück. Er weiß gute Dinge zu schätzen.
Kopfschüttelnd lachte sie ein wenig.
Ja, ich bin ein echter Hauptgewinn. Voll wie eine Haubitze. Sternhagelvoll.
Ich frag mich, was diese Marta für eine ist.
Ob er wohl noch
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