Der Gast: Roman
eigenen Körpers saugte ihn durch die Nacht.
Er fiel nicht zu Boden, sondern schoss zurück zu dem Ort, wo er seinen Körper gelassen hatte.
Die Stadt raste verschwommen unter ihm vorbei. Die Lichter in den Straßen waren lange gebogene Schlieren.
Plötzlich fand er sich in seinem eigenen Körper wieder. Noch ehe er die Augen aufschlug, bemerkte er, dass er völlig hinüber war: er schnappte nach Luft, schluchzte, Tränen liefen ihm über die Wangen.
Er wischte die Tränen mit den Fingerknöcheln weg. Dann drehte er den Zündschlüssel. Der Motor sprang an, und er schaltete die Scheinwerfer an. Er legte einen Gang ein und trat aufs Gas.
O Gott, dachte er, lass mich schnell genug sein.
Sorge dafür, dass das Schwein sich Zeit lässt.
Sie langsam bearbeitet.
Lass sie am Leben!
Neal fuhr schneller durch die Stadt als jemals zuvor. Er hielt nicht an den Ampeln. Schlitternd überholte er langsamere Autos. In den Kurven quietschten die Reifen. Das Atmen fiel ihm schwer. Das Lenkrad war glitschig unter seinen Händen, doch er hielt es fest umklammert – nur gelegentlich ließ er mit einer Hand los, um sich Tränen aus den Augen zu wischen.
Ich schaffe es nie rechtzeitig, dachte er.
Bitte. Lieber Gott, rette sie. Lass nicht zu, dass er sie tötet. Bitte!
In einer tieferen Bewusstseinsschicht hatte er den Eindruck, dass Gott wahrscheinlich nicht viel damit zu tun hatte.
Vielleicht doch, dachte er. Man kann nie wissen.
Ich habe sie heute Nacht schon einmal gerettet. Wie stehen die Chancen, dass ich es noch mal schaffe? Es wäre ein Wunder.
Dann brauchen wir eben ein Wunder! Bitte!
Ihm wurde bewusst, dass wohl eher die andere Seite von einem Wunder profitierte. Es war derselbe Mann. Er hatte mindestens zwei Kugeln abbekommen – eine davon in den Kopf. Trotzdem konnte er aufstehen, zu Elises Haus fahren und über sie herfallen.
Er hatte keine kugelsichere Weste getragen. So etwas kam nur in Filmen vor. Oder bei der Polizei. Vielleicht gab es tatsächlich ein paar Verrückte, die Westen trugen, aber nicht dieser Kerl. Neal hatte auf den ersten Blick den ausgemergelten Oberkörper des Mannes unter dem hautengen Hemd bemerkt.
Ich habe ihn getroffen. Gut getroffen.
Nicht gut genug.
Vielleicht ist er kurz vor dem Abkratzen.
Doch die Schläge, die Elise in den Bauch bekommen hatte, hatten sich nicht angefühlt, als kämen sie von jemandem, der am Rande des Zusammenbruchs stand. Sie waren verdammt hart gewesen. Und wie er sie an den Haaren hochgezerrt hatte …
Aber wer weiß?
Auch seine Kräfte sind begrenzt.
Vielleicht kann sie ihn überrumpeln. Ihm so wehtun, dass sie entkommen kann. Oder er wenigstens aufgehalten wird.
Am Olympic Boulevard stand die Ampel auf Grün. Nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte. Rot, gelb oder grün, er hätte ohnehin nicht angehalten. Er war auf dem Venice Boulevard, auf dem Centinela und nun auf dem Bundy permanent über rote Ampeln gefahren. In der Hoffnung, dass das Rennen nicht durch einen Unfall beendet wurde. In der Hoffnung, dass ein Polizist ihn sehen und die Verfolgung aufnehmen würde.
Heute Nacht musste die Polizei woanders unterwegs sein.
Kurz darauf schoss er über den Santa Monica Boulevard.
Fast da, dachte er. Nur noch ein paar Minuten.
Wehr dich, Elise! Halte durch.
Was, wenn sie nicht mehr im Haus sind?
Beim letzten Mal hatte der Drecksack sie nicht im Haus misshandelt, sondern war mit ihr weggefahren.
Vielleicht schleppt er sie wieder in seinen Lieferwagen und bringt sie irgendwo hin.
Aber vielleicht ist er auch zu verletzt, um sie zu tragen.
Das werde ich bald herausfinden.
An der Ecke von Bundy und San Vicente zeigte die Ampel Rot. Die Kreuzung schien frei zu sein. Weil er sich vermutlich überschlagen hätte, wenn er mit voller Geschwindigkeit abgebogen wäre, bremste er etwas ab. Er lenkte nach links. Der Wagen schlitterte, die Reifen quietschten. Als das Auto sich stabilisiert hatte, gab er wieder Gas.
Er näherte sich der Greenhaven Lane.
Im Rückspiegel war niemand zu sehen.
Er trat auf die Bremse und blieb fast stehen, ehe er in die schmale Straße einbog.
Während er das letzte Stück zu Elises Haus fuhr, wurde ihm klar, dass er eine gute Zeit hingelegt hatte.
Fast hundert im Durchschnitt.
Er konnte sich nicht vorstellen, wie man die Strecke schneller schaffen sollte.
Doch der Typ war seit mindestens zehn Minuten bei Elise. Wenn nicht gar seit einer Viertelstunde.
Keine Spur von dem Lieferwagen.
Stand er nur hinter der nächsten
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