Der Gast: Roman
Er schwebte über dem Pool und bewegte sich auf das vordere Tor zu.
Als würde er von einer sanften Kraft gezogen.
Er nahm an, dass es sich um dieselbe Kraft handelte, die er letzte Nacht viel stärker wahrgenommen hatte – das Gummiband, das ihn in seiner Vorstellung mit seinem Körper verbunden hatte. Heute Nacht hatte er es bis gerade eben noch nicht bemerkt. Der Zug war sehr schwach, kaum wahrnehmbar.
Ich überprüfe mal den Hintereingang, dachte er.
Er steuerte auf das Tor zu.
Der Zug hielt ihn nicht zurück. Er konnte ihn nicht einmal spüren, während er lautlos an Pool und Waschküche vorbei und durch das Tor zur Gasse glitt.
Ich mache nur einen kurzen Abstecher zu beiden Seiten, dachte er, dann gehe ich zurück und warte in meiner …
Von rechts, ein ganzes Stück die Gasse hinunter, schlurfte eine dunkle Gestalt auf ihn zu. Er spürte einen kurzen Stich der Angst.
Ist er es?
Neal wusste es nicht. Der Kopf des Fremden war unter einem Schlapphut verborgen. Ein langer dunkler Mantel umhüllte den Körper.
Es könnte sogar eine Frau sein, dachte Neal.
Oder es ist der Dreckskerl auf dem Weg zu mir.
Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden.
Doch als er bloß darüber nachdachte, sich die Gestalt von Nahem anzusehen, spürte er schon, wie er über den Asphalt auf den Fremden zuflog.
Er trug keinen Mantel, sondern einen Umhang.
Einen Umhang?
Kein Mensch trägt einen Umhang! Was geht hier vor?
Neal starrte in den Schatten des Schlapphuts.
Ist er es?
Ein graues schmales Gesicht ohne Bart.
Ich weiß es nicht, dachte Neal. Er könnte sich rasiert haben oder …
Hoppla!
Plötzlich war Neal in dem Fremden.
Keine Verletzungen.
Der Mann schien jung und gesund und aufgeregt zu sein. Er schwitzte unter dem Umhang, doch trotz der warmen Nacht hielt er ihn geschlossen. Das Futter fühlte sich auf der Haut nach Satin an. Er trug lediglich eine Badehose. Von den Waden abwärts war er von warmem Leder umhüllt. Die Stiefel waren innen glitschig, und seine Füße rutschten darin herum, während er durch die Gasse humpelte.
Ein gespieltes Humpeln, bemerkte Neal.
Während er kurz den Körper des Mannes inspiziert hatte, hatte er sich um die Gedanken nicht gekümmert. Das holte er nun nach.
»Ja, ja, ja. Ich bin der Schleicher. Ich schleiche durch die Gassen. Alle, die mich sehen, pissen sich in die Hose. Wo seid ihr? Kommt raus, kommt raus, wo immer ihr seid. Hier kommt der Schleicher. Der Schrecken eurer Albträume. Wer weiß, welche Bösartigkeit in meinem Herzen lauert?«
Neal spürte seine Begeisterung, seine Vorfreude.
Was ist das denn für ein Irrer?, fragte er sich.
Nicht mein Irrer.
»Ja, ja, ja. Hier komme ich die Gasse entlanggeschlichen. Kommt her, kommt alle. Gebt acht auf den Schleicher. Ich bin das dunkle Herz der Nacht. Ich hole euch.«
Großer Gott, dachte Neal.
Solche Typen treiben sich also nachts in den Gassen herum?
Wahrscheinlich sogar noch schlimmere, vermutete er. Dieser Kerl spielt irgendein Spiel.
Während er mit seinem seltsamen Monolog fortfuhr, schien der Schleicher von diesem merkwürdigen Benehmen auf einer anderen Ebene seines Bewusstseins erstaunt und erregt. Er hegte die Fantasie, seine Freunde in seine mitternächtlichen Spaziergänge einzuweihen. Doch sie würden es nicht cool finden, wenn er es ihnen erzählte. Sie müssten es zufällig herausfinden.
Die Fantasie – zunächst nur ziellos umherschweifende Gedanken – wurde immer konkreter. Bald nahm er sie in seinen Monolog auf.
»Ich schleiche hin und her durch die nächtlichen Gassen, und allen graut vor mir.« Vielleicht sollte ich das laut aussprechen. Das wäre cool. Aber es ist niemand hier, der mich hören könnte. Na und? Wen kümmert’s?
»Ich bin der Schleicher«, sagte er mit möglichst tiefer, unheimlicher Stimme. »Ho, ho, ho.«
Hör auf mit dem ho, ho, ho, du bist nicht der Weihnachtsmann.
»Ich bin der Schleicher«, versuchte er es erneut. »Mein ist die Nacht. Ich sammle Seelen. Ich esse sie und lache.«
Was bringt das Ganze, wenn niemand in der Nähe ist? Ich brauche ein Publikum.
Jetzt hab ich’s. Ich muss eine Überwachungskamera finden. Ja! Ich gehe zu einem 7-Eleven. Die haben die ganze Nacht geöffnet, und dort gibt es Kameras.
Mit Ton?
Spielt keine Rolle, ich kann meinen Spruch zu dem Angestellten sagen.
Der Gedanke, seine Show in einem Geschäft abzuziehen, schien den Schleicher eher zu ängstigen als zu begeistern. Dort würde es so hell sein. Und vielleicht wären
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