Der Gast: Roman
Armband.
Hol es dir, ehe du an den Mord denkst.
O Gott, schon passiert.
Er bekam Sues rechtes Handgelenk zu fassen, hakte einen Finger unter den schweren Armreif und zog.
Sues Hand glitt aus dem Spalt. Sie hing über ihrem Bein in der Luft. Als Neal an dem Armband zerrte, wackelte die Hand hin und her. Er bekam das Armband ab, und die Hand klatschte auf den Oberschenkel.
Neal stieß sich an Sue ab.
»Au!«, keuchte sie. Sie zuckte zurück und wand sich. »Runter von mir! Aua!«
Einen Augenblick später saß Neal aufrecht auf seinem Sitz. Er schob sich das Armband über die linke Hand, wo es vor einem plötzlichen Angriff Sues sicher war. Keuchend schüttelte er den Kopf. »Tut mir leid.«
»Scheiße, Mann.« Sie sah ihn wütend an und strich sich über die Beine. »Du musst nicht gleich so grob werden. Ich hätte es dir ja zurückgegeben.«
»Ich wollte dir nicht wehtun.«
»Ich glaub dir kein Wort.« Sie rieb ihre linke Brust. Das rote Plastiknamensschild tanzte darauf umher wie ein Floß auf einem stürmischen See. »Du hast fast meine Titte zerquetscht.«
»Oh …«
»Glotz nicht so dumm.«
Er blickte nach vorn.
Was ist hier los?, fragte er sich. Sue benahm sich wie ein Mädchen, das grob behandelt worden war, nicht wie jemand, der gerade eine magische Reise in eine verrückte Welt unternommen hatte.
»Sollen wir den ganzen Tag hier rumsitzen?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht.« Neal sah sie an. »Geht’s dir gut?«
»Ich werd’s überleben«, sagte sie. Ihre Augen nahmen plötzlich einen merkwürdigen Ausdruck an. Sie wandte den Kopf ab. »Los, fahren wir.«
»Bist du sicher?«
»Sicher bin ich sicher.«
»Ich kann dich hier rauslassen, wenn du möchtest.«
»Warum sollte ich das wollen?«
»Hast du keine Angst?«
»Wovor?«
»Vor mir.«
»Ich hab keine Angst vor dir.« Sie sah ihm in die Augen. »Sunny weiß, dass ich mit dir weggefahren bin. Sie hat deine Autonummer aufgeschrieben. Wenn mir was passiert, steckst du bis zum Hals in der Scheiße.«
»Ich würde dir nie etwas tun.«
»Dann ist ja gut. Fahren wir weiter?«
Neal nickte und ließ ein paar Autos vorbei. Dann fuhr er auf die Schnellstraße und trat aufs Gas.
Sie kann nicht bemerkt haben, was das Armband mit ihr getan hat, dachte Neal. Vielleicht dachte sie, sie würde halluzinieren.
Sollte er sie direkt danach fragen?
Lieber nicht.
Sue hatte ihn so merkwürdig angesehen, während sie gesagt hatte: »Ich werd’s überleben.« Als wüsste sie, dass er schon jemanden ermordet hatte, und befürchtete, er könnte versucht sein, auch sie aus dem Weg zu räumen.
Falls sie mich für einen Mörder hält, verhält sie sich aber angesichts dessen ziemlich gelassen.
Sie glaubt nicht, dass das alles wirklich geschehen ist, sagte er sich. Oder zumindest ist sie so verwirrt, dass sie nicht weiß, was sie davon halten soll.
Niemand würde sofort auf die Wahrheit kommen.
Sie war aus ihrem Körper geglitten und hatte Neal einen Besuch abgestattet?
Das wäre das Letzte , was sie glauben würde.
Wenn ich es ihr also nicht bestätige …
»So ein Armband hätte ich auch gern«, sagte Sue.
Neal hatte das Gefühl, in ein Loch zu fallen.
»Es soll Schlangen abwehren?«
»Ja, so sagt man.«
»Warum bist du ausgeflippt und hast es mir weggerissen? War eine Klapperschlange unter deinem Sitz oder so?«
»Nein, ich hab mir nur Sorgen gemacht.«
Weiter! Lass dir was einfallen!
»Du bist bewusstlos geworden«, sagte er. »Gleich nachdem du es mit den Lippen berührt hast. Ich hatte Angst, dass du dich vergiftet hast.«
»Hä?«
»Marta hat mich gewarnt … Ich dachte erst, es wäre ein Scherz, aber … sie hat mir erzählt, die Magie des Armbands käme zum Teil vom Schlangengift. Das hat der Verkäufer in dem Laden behauptet. Angeblich wurde es in das Gift der Aspisviper getaucht. Das soll die Schlangen fernhalten. Sie hat gesagt, er schien es ernst zu meinen. Er hat sie davor gewarnt, es in die Nähe des Mundes zu halten.«
»Das klingt für mich wie totaler Schwachsinn.«
»Tja, offenbar ist es nicht so viel, dass es einen umbringt. Aber als ich gesehen habe, dass du ohnmächtig geworden bist …« Neal schüttelte den Kopf. »Geht’s dir jetzt wieder gut?«
Er sah sie an. Sie runzelte die Stirn, als sei sie tief in Gedanken versunken.
»Noch etwas«, sagte er. »Das Gift der Aspisviper ist angeblich halluzinogen.«
»Was?«
»In kleinen Dosen führt es dazu, dass man Sachen sieht und hört, die gar nicht da sind. Man
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