Der Gast: Roman
Auch die Mutter des Kindes. Nur nicht der Junge selbst; er riss ungeniert weit den Mund auf, um erneut in das Würstchen zu beißen.
Neal überlegte, ob er irgendwie das Armband von Sues Handgelenk ziehen könnte.
Nein. Ihr rechter Arm hing an ihrer Seite herab. Er konnte das Armband zwar nicht sehen, doch es lag offenbar neben ihrer Hüfte – der Tisch war im Weg. Er kam nicht heran, ohne die Aufmerksamkeit aller möglichen Leute auf sich zu ziehen.
Komm zurück, Sue!
Verdammt!
Der Junge nahm seinen Milchshake.
Die Mutter bemerkte, dass Neal ihn anstarrte.
Er lächelte ihr zu und sah dann schnell zur Seite.
Das habe ich jetzt davon!
Sue!
Er riss sein Bein zurück, befreite es von dem Druck ihrer Knie.
Sie rutschte schnell hinab.
Zu schnell.
Neal versuchte, sie festzuhalten, doch er schaffte es nicht.
Er schrie: »Pass auf!«
Sues Kinn schlug so fest gegen die Kante, dass der Tisch wackelte, das Besteck schepperte und die Eiswürfel in den Gläsern klimperten. Der Schlag warf ihren Kopf nach hinten. Dann verschwand sie unter dem Tisch.
Alle sahen hin.
Auch das Kind.
Neal bückte sich und blickte unter den Tisch. Sue lag gekrümmt in dem engen Spalt, den Rücken an der Sitzbank, ein Knie aufgestellt, das andere Bein ausgestreckt, als hätte sie versucht, Neal gegen das Schienbein zu treten.
Ihr Höschen war weiß.
Ihr Hals war rot vor Blut.
27
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Neal öffnete Sue die Autotür.
»Danke«, nuschelte sie und stieg ein. Er schloss die Tür.
Als er sich auf dem Fahrersitz anschnallte, sah er sie an. Sie erwiderte seinen Blick mit einem verletzten, anklagenden Starren.
Am Kinn hatte sie ein Pflaster.
Ihr blaues Hemd war an der Brust noch dunkel vor Feuchtigkeit. Sie hatte es mithilfe der Kellnerin geschafft, auf der Toilette das meiste Blut herauszuwaschen.
»Es tut mir wirklich leid«, sagte Neal.
Er hatte das bereits ein Dutzend Mal während des Essens gesagt – und zur Antwort nur ein Starren erhalten. Neal hatte seine Hähnchenflügel nicht genießen können; das schlechte Gewissen hatte ihn zu sehr gequält.
»Ich hab gedacht, du wärst ein netter Junge«, sagte Sue.
»Das bin ich normalerweise auch«, presste er hervor. Kopfschüttelnd ließ er den Motor an. Während er vom Parkplatz fuhr, sagte er: »Ich weiß nicht, warum ich das getan habe. Ich war wütend und … ich wollte nicht, dass du dich verletzt.«
»Tja, hab ich aber.«
»Ich weiß.« Seine Augen brannten. Nicht zum ersten Mal, seit er sie fallen gelassen hatte. »Ich wünschte, ich könnte es rückgängig machen.«
»Das kann man nie. Mir haben schon öfter Jungs wehgetan, und hinterher hat es ihnen immer so leidgetan. Aber davon wurde es nicht besser.«
»Ich habe dich ja nicht geschlagen«, protestierte er und ärgerte sich darüber, dass er mit anderen in einen Topf geworfen wurde. »Ich war nur erschöpft davon, dich aufrecht zu halten. Es war genauso deine Schuld wie meine. Du solltest nur eine Minute wegbleiben. Wenn ich nicht so schnell reagiert hätte, wärst du sofort unter den Tisch gefallen.«
»Du kannst echt gut Frauen beschützen, allerdings nur kurz.«
»Oh, danke. Sehr nett von dir.«
Sie wandte das Gesicht ab und sah aus dem Seitenfenster.
Unterhalb der Straße lag der Mono Lake, die kalifornische Variante des Großen Salzsees in Utah. Neal hatte ihn vor vielen Jahren schon einmal gesehen, doch in seiner Erinnerung war er nicht so groß gewesen.
»Das ist der Mono Lake«, erklärte er in der Hoffnung, Sue von dem Vorfall im Restaurant abzulenken.
»Ich weiß.«
»Schön, oder?«
»Nein. Sieht unheimlich aus. Wie eine Mondlandschaft.«
»Sollen wir runterfahren und ihn uns von Nahem ansehen? Ich glaube, da vorne ist eine Zufahrt.«
»Nein.«
»Es ist Salzwasser. So salzig, dass man darin nicht untergeht.«
»Ich hab nicht vor, da drin zu schwimmen. Und selbst wenn ich’s vorhätte, würd ich nicht reingehen, weil mein Kinn aufgeplatzt ist.«
»Schade, dass ich mich nicht erinnern kann, was Mark Twain darüber geschrieben hat.«
»Über mein Kinn?«
»Über den Mono Lake. In Durch dick und dünn hat er alles Mögliche darüber geschrieben. Ich habe es vor ein paar Jahren gelesen, aber …«
»Ich hätte das nicht sagen sollen«, unterbrach sie ihn und sah ihn an.
»Was hättest du nicht sagen sollen?«
»Dass … dass du Frauen nicht richtig beschützen kannst. Das war unter der Gürtellinie, totaler Scheiß. Entschuldigung.«
»Okay, danke.«
»Und ich glaub, ich bin wirklich zu
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