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Der Gastprofessor

Der Gastprofessor

Titel: Der Gastprofessor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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R.«
    »Anwesend.«
    Auf einer Holzbank in der letzten Reihe des Gerichtssaals rückt Rain unauffällig näher an Lemuel heran, der Akten in einer Plastiktüte durchblättert. Sie streichelt den Hund, den sie auf dem Schoß hat, und spricht mit Lemuel, ohne ihn anzusehen. »Manchmal frage ich mich, ob das alles einen Sinn hat«, sagt sie aus dem Mundwinkel. »Die ganze Hektik, mein ich. Safer Sex, mein ich. Manchmal denk ich mir, ich sollte mir besser ein Boot kaufen und zu dem gottverdammten Horizont davonsegeln.«
    »Wenn du am Horizont angekommen bist«, sagt Lemuel, »siehst du einen neuen Horizont am Horizont.«
    »Fargo, Elliott.«
    »Anwesend.«
    »Afshar, Izzat.«
    »Anwesend.«
    »Hey, das ist ja eine ekelhafte Vorstellung. Aber Boote machen mich sowieso nervös. Die sind meistens auf dem Wasser. Und ich kann nicht schwimmen.«
    »Woodbridge, Warren.«
    »Anwesend.«
    »Jedzhorkinski, Zbigniew.«
    »Anwesend.«
    »Übrigens, letzte Nacht«, schneidet Lemuel behutsam ein neues Thema an. »Wo hast du eigentlich diesen Trick gelernt?«
    Verlegen krault Rain ihrem Hund das Ohr. »Du meinst, Tee trinken, um den Mund anzuwärmen?«
    Lemuel ist peinlich berührt und grunzt nur.
    »Nachman, Ascher ben.«
    »Anwesend.«
    »Macy, Jedidiah.«
    »Anwesend.«
    »Dearborn, Dwayne.«
    »Anwesend.«
    »Stifter, Shirley.«
    »Ebenfalls anwesend.«
    Der Gerichtsdiener nimmt die Brille ab, haucht auf die Gläser und fängt an, sie mit seinem Taschentuch zu putzen.
    »Das hab ich an der Highschool gelernt, in der Unterstufe«, erzählt Rain. »Da muß ich zwölf gewesen sein, knapp dreizehn. Eines Tages haben die mich im Umkleideraum der Jungen erwischt, wie ich mit meinem Cousin Bobby geknutscht hab – du weißt schon, dem Basketballspieler, von dem ich dir erzählt hab –, und mich zum Schultherapeuten geschleppt, der mich zu meiner Mutter geschleppt hat, die mich zum Gemeindepfarrer geschleppt hat. Der Pfarrer muß den Argwohn gehabt haben, daß ich ihm was verschweige, weil er hat mich gefragt, ob Bobby meine Titten angefaßt hätte. Er fragte, ob Bobby mir die Hand in die Unterwäsche geschoben hätte. Er fragte, ob ich Bobbys Fimmel angefaßt hätte. Er fragte, ob ich mich in Oralverkehr ergangen hätte.
    Hinterher hab ich ein Lexikon aufgetrieben und ›sich ergehen‹ und ›Oralverkehr‹ nachgeschlagen. Da hab ich dann begriffen, was der Pfarrer mit seiner nächsten Frage gemeint hatte. Er hat sich ganz dicht an das Holzgitter vorgebeugt, ich konnte hören, wie er im Marschtempo ein- und ausgeatmet hat, als er mich fragte, ob ich mir vorher den Mund angewärmt hätte. Da saß ich also, in puncto Unschuld der Jungfrau Maria dicht auf den Fersen, ja?, und hab die Grenzen des verbotenen Sex erkundet. Und ich hab’s kapiert. Dank dem Pfarrer hab ich kapiert, daß Sex noch mehr war als Cousin Bobby auf den Mund zu küssen.«
    »Morgan, Rain.«
    Rain schaut auf. »Yo.«
    Der Gerichtsdiener späht über den Rand seiner Lesebrille. »Die übliche Antwort ist ›Anwesend‹.«
    Rain lächelt kampflustig. »Yo«, wiederholt sie mit Nachdruck.
    Die Footballspieler und Cheerleader kichern über Rains Unverfrorenheit. Dwayne flüstert ihr aufmunternd zu: »Weiter so, Babe.«
    Der Gerichtsdiener verzieht das Gesicht.
    »Falk, Lemuel.«
    Lemuel hebt die Tatze. »Yo.«
    Diesmal bricht wilder Applaus im ganzen Saal aus.
    »Darling, Christine«, schreit der Gerichtsdiener in den Tumult.
    Eines der Cheerleader-Mädchen springt auf und stellt sich in den Gang. »Gebt mir ein Yo«, ruft sie.
    Alle achtundsechzig Angeklagten jauchzen im Chor: »YO!«
    »Ich hör euch nicht«, ruft das Mädchen.
    Die Angeklagten drehen die Lautstärke um ein paar Dezibel auf: »YOOO!«
    »Ich hör euch immer noch nicht.«
    »YOOOOOOOO!«
    Rain lehnt sich wieder zu Lemuel hin. »Als ich zwölf war, knapp dreizehn, war ich so dünn wie eine Nagelfeile und so platt wie ein Bügelbrett. Ich hatte vorstehende Schneidezähne und knubblige Knie. Zum Ausgleich hab ich mir eine Zeitlang Watte in den BH gestopft. Ich hab nur aus Armen und Beinen bestanden und bin regelmäßig über mich selber gestolpert, wenn ich aus dem Bett gestiegen bin. Dann hab ich auch noch Akne im Endstadium bekommen und gedacht, ich hätte sie mir bei meinem Cousin Bobby geholt. Du kannst dir vorstellen, wie deprimiert ich war, oder? Damals hab ich beschlossen, mir zehn Jahre zu geben, um schön zu werden.« Rain wirft nervös den Kopf herum, weil ihr die Haare übers Auge hängen. »Das

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