Der Gaukler: Historischer Roman (German Edition)
sie die hölzerne Elle mit. Heute hatte sie damit noch nicht zugehauen – die ganze Woche noch nicht, wenn Susanna sich recht erinnerte. Auch an den Haaren riss ihre Mutter sie seltener in letzter Zeit.
»Vollendet muss es ausschauen, das Blumenornament«, hatte sie dem Mädchen erst gestern wieder eingeschärft. »Schließlich werden die durchlauchtigsten Augen unserer ehrwürdigsten Herrschaft darauf ruhen. Sie sollen sehen, dass man in Handschuhsheim mindestens so viel von der Kunst der Schneiderei und Stickerei versteht wie bei den Zunftmeistern zu Heidelberg. Die ganze Stadt soll es sehen!«
Offenbar war die Mutter zufrieden, denn jedes Mal kehrte sie zu Tante und Talar zurück, ohne ein Wort des Tadels verloren zu haben. Wie ein Lachen stieg es Susanna warm aus der Brust ins Gesicht: der Stolz, die Stickerei allein vollenden zu dürfen.
Aus der Küche am anderen Ende des Hauses klapperte Geschirr. Susannas Schwester Anna und die Großmutter bereiteten das Abendessen. Es duftete nach Schweineschmalz und Bohnen. Susanna versank ganz und gar in ihrer Arbeit, und während die rote Blume im nachtblauen Stoff erblühte und wuchs, stellte sie sich vor, wie es sich wohl anfühlen mochte, dieses Kleid zu tragen. Wie es wäre, in diesem schönen nachtblauen Meisterstück an der Seite eines Magisters durch den Festsaal der Universität zu Heidelberg zu schreiten. Die Hofleute des Schlosses, die Magister und Räte samt ihrer Gattinnen würden sie betrachten und bewundern, und sie würden sagen: »Wer ist denn diese junge Frau mit den schwarzen Locken? Wie schön sie doch ist! Ist sie nicht eines Schneiders Tochter? Und jetzt hier? Wie kann das zugehen? Ein Wunder!«
An dieser Stelle lächelte Susanna, hob den Blick und sah in das Gesicht des Mannes an ihrer Seite – in das geliebte Hannesgesicht. Und dann verwandelte es sich in das Gesicht des fremden Magisters. Mit dem Vater war sie bei ihm gewesen, um ihm die Stoffe vorzustellen und Maß zu nehmen für Talar und Kleid.
Susanna vertrieb die Bilder aus ihrem Kopf, beugte sich tiefer über den Stickrahmen. Nein, Hannes ist Zimmermann, und ich werde eine Schneiderin und Stickerin sein. Aber durfte man nicht träumen? Plötzlich schämte Susanna sich.
Hinter ihr, auf dem großen Nähtisch, erhitzten sich die beiden Gesellen über einen Zettel, den der Vater am Tag zuvor aus Heidelberg mitgebracht und den er »Flugblatt« genannt hatte. Von Hand zu Hand war dieses Flugblatt gegangen, auch in der Nachbarschaft. Jeder hatte es betrachten wollen, jedem hatte der Vater vorlesen müssen.
Es zeigte ein Bildnis des Kurfürsten Friedrich als König von Böhmen. Kein sehr hübsches, wie Susanna fand – er wirkte auf dem Kupferstich viel älter, als er wirklich war. Sie hatte ihn erst Ende September gesehen, als er mit großem Tross von Heidelberg nach Böhmens Hauptstadt aufbrach. Am Speyerer Tor hatte sie gestanden und ihm mit vielen anderen zugewinkt. Inzwischen war es mehr als einen Monat her, dass sie ihn und seine Elisabeth Stuart im Veitsdom zu Prag gekrönt hatten.
Das Bildnis war eingerahmt von Rosenranken und flankiert von zwei Löwen: einen zur Rechten des jungen Königs, wo die Rosen noch blühten und schwere Reiterei das Tier angriff, und einen zur Linken, wo die Ranken verdorrt waren und der Löwe in Tuch gehüllt und frierend in winterlicher Landschaft kauerte.
»Ein kaiserlicher Spötter hat das verbrochen!«, wetterte der ältere der beiden Gesellen. »Er schimpft unsere gnädigste Herrschaft einen ›Winterkönig‹!« Das rief er laut und heftig, wie immer wenn er den Vater und vor allem Susanna beeindrucken wollte.
»Einen ›Winterkönig‹?«, fragte der Lehrbub mit scheuerStimme. »Was ist das, ein ›Winterkönig‹?« Anders als sein Meister und die Gesellen saß er nicht mit gekreuzten Beinen auf dem Tisch um Glutstövchen und Kienspanhalter, sondern davor auf einem Hocker.
»Nichts, was es wirklich gibt.« Susanna hörte hinter sich das Papier des Flugblattes rascheln. »Doch schau dir den jämmerlichen Löwen an und das welke Dornengestrüpp. Nicht länger als einen Winter lang wird unsere gnädigste Herrschaft als König von Böhmen regieren, soll das heißen, dann wird seine Kraft verdorrt sein. Schmierfink!«
Eine Zeitlang schwiegen die Männer und der Junge. Bis sich der zweite, jüngere Geselle räusperte und sagte: »Was meint Ihr dazu, Meister?«
Der Vater ließ sich Zeit mit der Antwort. »Freilich haben das Leute geschrieben und
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