Der Gaukler: Historischer Roman (German Edition)
»Großvater wünscht, dass man ihm einen Krug Bier bringt. Im Waisenhaus gibt es wieder nur Wein.«
Die Mutter stand plötzlich hinter ihr, spähte ihr über die Schulter – Susanna hielt den Atem an, barg den Zettel in ihrer Faust auf ihrem Schoß. »Komm zum Essen, Susanna.« Mit der Elle stupste die Mutter sie zwischen die Schulterblätter und wandte sich ab. Susanna öffnete die Faust, entfaltete das Papier. Eine Nachricht von Hannes! Ihr Herz machte einen Sprung: Er war im Ort, wollte sie sehen; sie solle in den Obstgarten des Waisenhauses kommen, es sei wichtig.
Wie im Traum rauschte die letzte Mahlzeit des Tages an ihr vorüber. Sie zwang sich, langsam zu essen, um den Eltern keinen Hinweis auf ihre Erregung zu geben, zwang sich zu einer ganzen Schüssel Getreidebrei und ein paar Speckbohnen. Sie konnte kaum still sitzen. Der Vater hob nur einmal musternd den Blick, die Mutter aber beobachtete sie verstohlen. Musste sie denn alles merken? Und der ältere Geselle, wie er wieder glotzte, der Dummbeutel!
»Ich will dem Großvater das Bier bringen«, erklärte sie nach dem Abräumen. Die Mutter holte schon Luft, um zu widersprechen, doch der Vater erlaubte es. So ging das oft.
Dann hinein in Schal, Mantel und Stiefel. An der Haustür reichte die Großmutter ihr den vollen Bierkrug. Hinaus in den Schnee, vorbei an Pfarrhaus und Vituskirche und den Mühlweg hinunter zum Atzelhof, wie das Waisenhaus im Ort noch immer genannt wurde.
Der Fahrweg zum Hof war geräumt, doch unter dem Torbogen, durch den man in den Obstgarten gelangte, sah Susanna Spuren im Schnee. Hannes.
Die Fußstapfen führten durch den gesamten Garten bis zurHütte, wo die Leitern und Körbe aufbewahrt wurden. Die Tür dort war nur angelehnt.
Sie huschte in den Garten, sprang durch den Schnee, schlüpfte in die Hütte – und stand vor ihm. Traurig lächelte sein Gesicht im Halbdunkeln. Sie stellte den Krug ab und warf sich in seine Arme.
Eine Zeitlang hielten sie einander einfach nur fest. »Ich gehe fort«, sagte er endlich. »Gleich morgen in der Frühe.«
»Was?« Susanna machte sich los und sah ihm ins ernste Gesicht. Schrecken raubte ihr die Stimme.
»Ich habe mit deinem Vater gesprochen. Er hat ›vielleicht‹ gesagt und ›nein‹ gemeint.«
»Er hat nicht nein gesagt?« Susanna schöpfte Hoffnung.
»Erst soll ich auf Wanderschaft gehen. Komme ich zurück und finde eine Anstellung, darf ich noch einmal fragen.«
»Auf Wanderschaft …?« Susanna versuchte zu verstehen.
Der Pfarrer von Ladenburg hatte nicht allein dafür gesorgt, dass Hannes Lesen und Schreiben lernte und mit den Waisenknaben die Dorfschule von Handschuhsheim besuchte – auch eine Lehrstelle bei einem Zimmermann seiner Gemeinde hatte er dem Jungen verschafft. Der Dachstuhl des neuen Pfarrhauses war sein Gesellenstück gewesen. Jetzt war Hannes ein Zimmermann und die Lehrzeit vorüber. Und der Lehrzeit folgte die Wanderschaft.
Wie hatte sie das nur vergessen können?
»Mitten im Winter?« Sie schlang wieder die Arme um ihn, hielt ihn ganz fest. »Die Kälte, der Schnee – du wirst erfrieren!«
»Noch sind Neckar und Rhein nicht zugefroren. Mein Meister kennt einen Schiffer, der mich mitnimmt.«
»Aber wohin denn?«
»Nach Frankfurt, später nach Köln, Paderborn und Magdeburg.«
»So weit?« Susannas Vater stammte aus dem reichen Frankfurt, und als Schneidergeselle hatte seine Wanderschaft ihn über Köln ins reiche Magdeburg geführt. Wollte Hannes ihrem Vater beweisen, dass er dasselbe zustande brachte wie er, als er noch jung war? »Und so lange!« Sie seufzte und kämpfte mit den Tränen.
»Vier Jahre, das weißt du doch.«
»Vier Jahre …« Sie flüsterte, die Stimme versagte ihr. Wie vierzig Jahre hörte sich das an. Sie weinte in seinen Mantel hinein.
»Deswegen warte ich nicht bis zum Frühling – damit ich schneller wieder hier bin.« Er streichelte ihren Rücken. »Ich wollte dich noch einmal sehen und Ade sagen und …« Er senkte die Stimme und schluckte. »Und will wissen, ob du …«
»Ich werde auf dich warten!« Sie schob ihn von sich, sah ihm tief in die blauen Augen.
»Und wenn dein Vater dich mit dem Gesellen verheiraten will?«
»Niemand verheiratet mich mit irgendwem.« Sie schluckte. »Ich werde auf dich warten. Ich schwöre es dir bei Jesus Christus, unserem Herrn.«
»Du brauchst mir nichts schwören, ich glaube dir.« Er nahm ihr Gesicht zwischen seine kräftigen Hände. »Ich hab dich so lieb.«
»Komm bald wieder.«
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