Der Gaukler: Historischer Roman (German Edition)
in Stuttgart auf dem Ostermarkt sein. Auch das hatte Susanna am Morgen in der Kürschnerwerkstatt gehört.
Und sie? Wo würde sie in zwei Wochen sein? Und was würde sie sein? Eine Näherin und Kinderhüterin in Heilbronn? Eine Pestkranke? Eine Gauklerin auf den Märkten des Reiches? Oder nur noch eine Erinnerung in wenigen Menschenköpfen?
Manchmal, wenn sie versuchte, den Rat der Landgräfin zu beherzigen und sich an die Monate zurückzuerinnern, seit ihr Vater sie in den Schutz der Heidelberger Mauern brachte, wurde ihrschwindlig. Wie ein ganzes Leben kamen ihr die siebzehn Monate vor und zugleich doch kurz wie ein Schrei. Was hatte sie unter Gauklern und Kürschnern verloren? Wie kam sie denn hierher nach Heilbronn? Was war nur geschehen?
Und dann wieder, wenn sie tat, was nun einmal getan werden musste – wenn sie nähte, wenn sie kochte, wenn sie Kinder badete, wenn sie Hühner fütterte –, dann erschien ihr alles ganz selbstverständlich. Wo sonst, außer in Heilbronn, sollte sie denn sein? Hier lebte Verwandtschaft, hier hatte sie ein Dach über dem Kopf, hier war sie einigermaßen sicher vor dem Krieg. Keiner würde Fragen stellen, wenn sie das Naheliegende tat, wenn sie für immer bliebe. Nicht einmal die eifersüchtige Frau des Großcousins.
Die Sonne stieg über die Dächer der Stadt, es wurde wärmer. Susanna blickte auf den Neckar. Die Kinder zielten auf einen Aststrunk, die Soldaten glotzten. Susanna ließ das Geländer los – zu Hause wartete Arbeit.
Zu Hause …
Viele Bretter trieben jetzt unten auf dem Neckar vorbei. Von irgendwoher hatte das Hochwasser ein Haus mitgerissen. Hundert Schritte entfernt schaukelte ein halber Dachstuhl in den Wogen. Die Söhne des Großcousins hatten neue Steine besorgt, zielten und holten aus. »Nicht!« Susanna packte den Arm des Ältesten. »Seht doch!« Sie deutete auf den Dachstuhl. »Eine Katze.« Und jetzt entdeckten auch die Kinder das Tier – es klammerte sich an einem Balken fest.
Ah und oh , ging es durch die Kinderschar, armes Kätzchen und es muss ertrinken, wenn keiner es rettet . Alle drängten sich nun am Brückengeländer, sogar die Soldaten des Herzogs von Württemberg.
Der Dachstuhl in der Flussmitte glitt näher, ein paar Atemzüge lang sah Susanna die Katze sehr deutlich – sie war grau und schwarz gestreift und noch recht jung; sie stammte wohl aus einem Wurf vom letzten Herbst. Entlang des Rückgrats sträubte sie das feuchte Fell, spähte um sich, wirkte gehetzt und verängstigt.
»Wir müssen ihr helfen«, erklärte der älteste der Knaben, und die anderen Kinder sagten »au ja« oder »wie denn?« oder »lasst uns für das Kätzchen beten«. Große Aufregung herrschte.
Kaum noch zwanzig Schritte von der Brücke entfernt, schob ein Wirbel ein großes Brett nahe am Gebälk vorbei. Die Katze duckte sich erst tief auf ihren Balken und sprang dann ab. Ein Aufschrei ging durch die Kinderschar. Mit den Vorderläufen landete das Tier auf dem Brett, zog sich aus dem Wasser hinauf, schüttelte sich, kauerte wieder dicht am Holz, trieb Richtung Westufer fort vom Gebälk. Dann trug die Strömung den Dachstuhl und das Brett mit der Katze unter die Brücke.
Alle rannten zum anderen Geländer hinüber. Auch die Soldaten. Auch Susanna.
Die Strömung trug das Treibgut an den Pfeilern vorbei unter der Brücke hindurch. Wie gebannt spähte Susanna hinunter in den Fluss. Trümmer schaukelten vorbei und entfernten sich rasch, mittendrin das Brett mit der Katze. Vielleicht trennten noch dreißig Schritte sie vom Westufer, vielleicht zwanzig. Und wieder sprang sie ab, und wieder auf ein Brett, das ein kleines Stück näher am Westufer trieb.
»Wir müssen sie retten!« Der älteste Sohn des Großcousins lief los, die anderen Kinder hinterher. Die Soldaten ließen sie vorbei, zwei stiegen sogar mit ihnen zum Ufer hinunter. Die Katze aber sprang zum dritten Mal – diesmal ins Wasser. Und sie schwamm.
Kein Treibgut, ein lebendiges Wesen.
Sie schwamm bis ins seichtere Wasser, wo die Flut die Weiden umspülte. Dort kletterte sie an einem in den Fluss hängenden Ast aus dem Neckar in den Baum und schüttelte das Wasser aus dem Fell.
Niemand rettete sie. Sie rettete sich selbst.
Heiß durchzuckte es Susanna. Als würde wieder ein Fenster in ihr Leben sich öffnen, so war ihr auf einmal. Sie stieß sich vom Geländer ab, ging über die Brücke zum Westufer. Unten wateteein Soldat zur Weide, hob die Katze aus dem Geäst, brachte sie zu den
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