Der Gaukler: Historischer Roman (German Edition)
Freunde, deswegen schlüpfe ich in fremde Häute – um zu lernen, wie man alt wird, wie man Siechtum erträgt, wie man stirbt …«
»Hört ihm einfach nicht zu.« Wieder und wieder winkte Aaron ab. Er trank viel zu schnell. Taylor lächelte geheimnisvoll, Maria hing an Greenleys Lippen, Piet von Dam stierte finster in seinen Weinkelch, und David dachte an den Totenschädel von Will Kemp ganz unten in seiner Kleidertruhe.
»Spürt ihr, wie viel Angst er hat?« Lachend deutete der Prinzipal auf Aaron. »Er will leben, und er hat recht. Er will auf der Bühne gesehen werden, so versichert er sich, dass er noch lebt!« Greenley lachte so laut, dass die ganze Schänke schon guckte, und Aaron schimpfte leise vor sich hin. »Aaron und wir alle hier sind doch nicht aus Versehen Komödianten geworden«, fuhr der Prinzipal fort. »Sicher, wir lieben Geschichten, Verse, Kostüme und Masken, hinter denen wir für Stunden ein anderer sein können. Sicher, wir lieben es, die Welt und das Leben durch die Augen eines anderen zu sehen – vor allem aber lieben wir es, wenn sie uns zujubelt, die Welt, wenn sie uns beklatscht, wenn es vielstimmig ›Bravo!‹ aus ihr tönt! Vor allem lieben wir es, gesehen zu werden. Wie Kinder nicht leben können, ohne von der Mutter angeschaut zu werden, wenn sie erste Schritte tun, wenn sie erste Worte sagen, wenn sie einen Turm aus Steinen bauen, wenn sie zum ersten Mal in den Topf scheißen, so können wir Komödianten nicht leben, ohne angeschaut und bewundert zu werden.«
Aaron erregte sich lautstark, die Prinzessin und Piet guckten sehr empört, David saß wie vom Donner gerührt, und Taylor schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und rief: »Nun stellst du uns aber als gar zu eitle Säcke dar, will mir scheinen!«
»Ich stelle uns als Abbilder der Menschen im Allgemeinen dar, als Fleisch gewordene Sehnsucht nach Liebe und Bewunderung. Am Jubel der Zuschauer wollen wir hören, dass wir noch leben und dass wir zu Recht leben. Darin sind wir Schauspieler ganz und gar durchschnittliche und ganz und gar eitle Madensäcke.«
»Igitt!«, entfuhr es der Prinzessin, und unter dem Tisch tastete sie schon wieder nach Davids Hand. Diesmal merkte er es kaum, denn jedes Wort des Prinzipals ging ihm unter die Haut.
»Der Wein erhitzt und verführt dich mal wieder zu maßlosen Übertreibungen«, sagte Aaron und prostete Greenley zu.
»Ich behaupte sogar, je besser einer ist, desto dringender will er gesehen werden.« Der Prinzipal ließ sich nicht zum Schweigen bringen. Der Blick seiner eisgrauen Augen richtete sich auf David. »Je besser einer ist, desto mehr sehnt er sich danach, gesehen und bejubelt zu werden …«
»Amen! Und nun lasst uns endlich ein paar Worte über das Wetter reden«, seufzte Aaron. »Oder über den Wein von mir aus, oder über diese wunderschöne Stadt …«
Einige Dresdner kamen an ihren Tisch. Man schwatzte und schmeichelte, schwärmte von Dresden und erklärte einander die Welt. Der Wein floss in Strömen. »Ich bin müde«, sagte Maria von Bernstadt. So viele einfache Männer auf einmal am Tisch behagten ihr wohl nicht. »Begleite mich bitte ins Schloss, David.«
Kaum einer merkte, wie sie aufstanden. Sie gab David Geld, damit er bezahlte, was die Komödianten bisher vertrunken hatten. Danach verließen sie Seite an Seite die Schänke und schritten durch die Nacht. Keiner sprach ein Wort.
»Wie ein Labyrinth ist dieses riesige Schloss«, brach Maria endlich das Schweigen, als zwei Wächter das Portal hinter ihnen schlossen. »Du musst mich zu meinen Gemächern begleiten, sonst verlaufe ich mich.« Sie hakte sich bei ihm unter, und halb betäubt von Wein und Erregung wankte David neben ihr.
Hätte er noch umkehren können? Vielleicht. Doch er wollte nicht umkehren, er wollte mit ihr gehen, wollte versinken in dieser duftenden Verheißung, die sich da an ihn drängte. Weil sie eine Prinzessin war? Vielleicht auch deswegen. Vor allem aber, weil sie ihm mit so vielen Gesten und Blicken versichert hatte, wie wunderbar sie ihn fand; weil sie ihn wollte, unbedingt, wie es schien, und um jeden Preis.
Als sie vor der Tür zu ihrem Schlafgemach standen, griff David in die Jackentasche, um nach dem Mutterzopf zu tasten. Er war nicht da, wo er sein sollte. Natürlich nicht – er hatte einen anderen, einen besonders festlichen Rock zum Essen angezogen.
Kaum schloss Maria die Tür hinter sich, warf sie den Seidenmantel ab und zog sich die vielen Kleider über den Kopf. Der
Weitere Kostenlose Bücher