Der gefährliche Traum (German Edition)
unheimliche Wesen. Nichts Finsteres verbarg sich mehr am Waldrand. Vermutlich lag es an den vielen Räubergeschichten und seiner viel zu üppigen Fantasie. Sein Vater hatte gestern Abend ein unheimliches Spessartgedicht aufgesagt, dessen Anfang sich Max gemerkt hatte. Es begann so:
»Siehst du dort den Strauch sich regen?
Hörst du nicht ein ängstlich Wimmern?
Siehst du nicht die roten Flammen
Dort aus dem Gebüsche schimmern?«
Wie es weiterging, wusste er nicht mehr. Irgendwas mit Geisterräubern. Auf jeden Fall war in dem Gedicht auch von einem roten Aufleuchten die Rede. Max blickte noch einmal zum Wald hinüber, aber sosehr er sich auch konzentrierte, es war außer Bäumen und Sträuchern nichts zu sehen.
Um sich wieder auf andere Gedanken zu bringen, lenkte Max seine Aufmerksamkeit auf das Buch. Ein eigenartiges Kribbeln durchfuhr ihn erneut, als er es aufschlug und aufgeregt darin blätterte. Er fand viele alte Ansichten von dem Ort, dem Schloss und dem Wald. Bei einer Kapitelüberschrift blieb Max hängen. Sie lautete:
»
Von dem spurlosen Verschwinden der kleinen Friederike von Hohenstein im Jahre 1649 «.
Max begann zu lesen, kam aber nicht weit.
»Was tust du hier? Das ist mein Platz.«
Vor ihm stand Fritzi. Sie hatte ihre Arme in die Hüften gestemmt und funkelte ihn wütend an.
»Was soll das heißen? Warum sollte das dein Platz sein? Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Hast du den Spruch schon mal gehört?«, konterte Max, der sich nicht vertreiben lassen wollte. Was bildete sich diese adelige Ziege eigentlich ein?
»Das mag sein, aber ich habe die älteren Rechte«, beharrte Fritzi stur. »Ich bin hierhergekommen, um zu entspannen. Aber das kann ich nicht, wenn noch jemand da ist. Das ist jetzt nicht persönlich gemeint. Selbst wenn du der Papst wärst, müsstest du jetzt gehen.«
»Wie du so schön sagst, ich bin nicht der Papst. Und du bist nicht die Alleinherrscherin des Universums. Du hast mir also nichts zu sagen. Entweder du erträgst meine Gesellschaft oder
du
gehst.« Max lächelte sie freundlich an. »Übrigens wäre ich auch gerne alleine, nur so als kleiner Tipp.«
Fritzi schnaufte. Max konnte förmlich sehen, wie es in ihr arbeitete. Er konnte auch sehen, dass sie zu einem erfreulichen Ergebnis kam. Ihre Augen blitzten vergnügt auf.
»Wenn du wüsstest, was das hier für ein Platz ist, fändest du ihn vermutlich weniger entspannend.« Diesen Satz ließ sie im Raum stehen und wartete. Wie ein Angler, der seinen Haken ausgeworfen hatte. Und Max biss prompt an.
»Wie meinst du das?«, fragte er etwas verunsichert.
»Oh, du weißt also nichts von den tragischen Ereignissen vor langer, langer Zeit?« Fritzi machte eine bedeutungsschwere Pause, ehe sie zu berichten begann.
»Dies hier war schon vor mir der Lieblingsplatz eines Mädchens. Es war so alt wie ich, als es für immer spurlos verschwand. Das war im Jahr 1649 . Weil sein Vater so traurig war, ließ er zur Erinnerung ein steinernes Abbild von seiner kleinen Tochter anfertigen. Er stellte es auf einen Sockel direkt vor diesen Baum.« Mit theatralischer Stimme fügte sie noch hinzu: »So hatte er einen Ort für seine Trauer gefunden.«
Max’ Gedanken schlugen Purzelbäume. Ging es in dieser Geschichte um das Mädchen aus dem Buch? Gebannt hing er an Fritzis Lippen.
»Im Laufe der Jahrzehnte wuchs der Baum und sein Stamm wurde von Jahr zu Jahr kräftiger. Die Buche schloss das Abbild mehr und mehr ein, bis nur noch das traurige Gesicht des Mädchens zu sehen war.«
Max folgte Fritzis Blick den kräftigen Baumstamm hinauf. Ihm stockte der Atem, als er sah, wovon Fritzi sprach. Ein liebliches Kindergesicht, sorgfältig aus weißem Marmor geschlagen, blickte traurig in die Ferne. Der Baumstamm war um die Skulptur herumgewachsen und hatte sie buchstäblich verschlungen.
»Die Legende sagt, dass eines Tages ein Nachkomme des Schuldigen auftauchen würde, der für das Verschwinden und vermutlich den Tod des Mädchens verantwortlich ist. Und der soll das geschehene Unrecht wiedergutmachen.«
»Und wie?«
»Ganz einfach: Er muss einen Nachkommen des Mädchens aus höchster Not retten. An diesem Tag dann werden die Seelen des kleinen Mädchens und des Schuldigen Frieden finden. Dann wird auch das traurige Gesicht vollständig von dem Baum umwachsen sein.«
Max hatte beim Zuhören eine Gänsehaut bekommen. Auch wenn er nicht an solche Geschichten glaubte, jagten sie ihm stets einen Schauer über den Rücken.
»Es wird wohl
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