Der Gefangene
mit viel Liebe und Aufmerksamkeit. Elizabeth hielt ihren Vater für unschuldig, aber Dennis vermutete, dass es doch einige Zweifel bei ihr gab. Mindestens einmal in der Woche telefonierten sie miteinander und schickten einen Brief. Einen Besuch erlaubte er nicht. Er wollte seine Tochter nicht in der Nähe des Gefängnisses haben. Sie sollte ihn nicht in Gefängniskleidung hinter Stacheldraht und Mauern sehen.
Wanda Fritz, seine Mutter, führ kurz nach Dennis' Ankunft nach Conner. Besuchszeit war sonntags, von zehn bis sechzehn Uhr, in einem Raum mit Klapptischen und Stühlen. Es war der reinste Zoo. Man ließ immer etwa zwanzig Häftlinge auf einmal ein, deren Familien bereits warteten - Frauen, Kinder, Mütter und Väter. Die Stimmung war emotionsgeladen. Die Kinder waren oft ungezogen und laut. Die Männer trugen weder Hand- noch Fußfesseln, und Körperkontakt war erlaubt.
Körperkontakt war genau das, was die Männer wollten, obwohl langes Küssen und allzu enge Umarmungen verboten waren. Der Trick bestand darin, einen Wärter für Sekunden von einem Mithäftling ablenken zu lassen, damit man schnellen Sex haben konnte. Es war nichts Ungewöhnliches, dass sich ein Paar zwischen zwei Getränkeautomaten versteckte und irgendwie miteinander verkehrte. Frauen, die gerade noch völlig gelassen am Tisch gesessen hatten, duckten sich abrupt für eine schnelle Runde Oralsex unter den Tisch.
Zum Glück gelang es Dennis trotz der chaotischen Atmosphäre stets, die Aufmerksamkeit seiner Mutter auf sich zu ziehen, doch ihr Besuch war für ihn die aufreibendste Zeit der Woche. Er riet ihr, nicht mehr zu kommen.
Ron fing an, in seiner Zelle hin und her zu gehen und zu brüllen. Falls man nicht schon bei der Ankunft im Todestrakt verrückt war, musste man nicht lange warten, bis man den Verstand verlor. Er stand an seiner Tür und schrie stundenlang: »Ich bin unschuldig! Ich bin unschuldig!«, bis er heiser war. Durch viel Übung wurde seine Stimme jedoch stärker, und mit der Zeit konnte er länger brüllen. »Ich habe Debbie Carter nicht getötet! Ich habe Debbie Carter nicht getötet!«
Er lernte die komplette Mitschrift von Ricky Joe Simmons' Geständnis auswendig, jedes einzelne Wort, und sagte sie in voller Lautstärke auf, damit es auch alle Wärter und Zellennachbarn hörten. Außerdem brachte er es fertig, stundenlang aus seiner Prozessmitschrift zu zitieren, Seite um Seite der Zeugenaussagen, die ihn in die Todeszelle geschickt hatten. Die anderen Häftlinge hätten ihn am liebsten erwürgt, staunten aber gleichzeitig über sein gutes Gedächtnis.
Um zwei Uhr morgens waren sie allerdings nicht mehr beeindruckt.
Eines Tages bekam Renee einen äußerst seltsamen Brief von einem Gefangenen aus dem Todestrakt. Er hatte auszugsweise folgenden Inhalt:
Liebe Renee,
der Herr sei gepriesen! Ich, Jay Neill, Nr. 141128, schreibe diesen Brief im Auftrag und auf Bitten Ihres Bruders Ron. Ron hat seine Zelle schräg gegenüber von meiner. Manchmal machte er jeden Tag schwere Zeiten durch. Ich glaube, er bekommt Medikamente, die sein Verhalten stabilisieren und ändern sollen. Aber aufgrund der Vorschriften verteilen sie hier nur solche Medikamente, die lediglich eine begrenzte Wirkung haben. Rons größtes Problem ist seine geringe Selbstachtung. Und ich glaube, die Leute hier im Gefängnis sagen ihm, dass sein Intelligenzquotient unter dem Durchschnitt liegt. Zwischen zwölf und sechzehn Uhr ist es bei ihm immer am schlimmsten.
Manchmal schreit er etwas in regelmäßigen Abständen, so laut er kann. Dadurch fühlen sich viele Gefangene in seiner Nähe gestört. Zuerst haben sie versucht, mit ihm zu reden, dann haben sie ihn einfach ignoriert. Doch viele von ihnen haben jetzt keine Geduld mehr mit ihm. (Ganz sicher wegen der vielen schlaflosen Nächte.)
Ich bin Christ und bete jeden Tag für Ron. Ich rede mit ihm und höre ihm zu. Er liebt Sie und Annette sehr. Ich bin sein Freund. Ich habe mich als Puffer zwischen Ron und die Leute gestellt, die sein Gebrüll stört, da ich immer aufstehe und mit ihm rede, bis er wieder ruhig ist.
Möge Gott Sie und Ihre Familie schützen.
Mit freundlichen Grüßen
JAY NEILL
Neills Freundschaften mit anderen Häftlingen im Todestrakt waren stets dubios, und über seine Bekehrung zum christlichen Glauben wurde oft diskutiert. Seine »Freunde« waren skeptisch. Bevor er ins Gefängnis gekommen war, hatten er und sein Freund nach San Francisco ziehen wollen, weil es dort offener und
Weitere Kostenlose Bücher