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Der Gefangene

Titel: Der Gefangene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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man sah ihm auch an, dass er allmählich frustriert war. Einmal bemerkte er beiläufig, er sei nur von Amts wegen bestellt und wolle nicht zu viel Zeit auf diesen Fall verwenden. Er habe sich vorgenommen, gute Arbeit zu leisten, fürchte aber, dass ihm sein erster Mordprozess die letzte Kraft raube.
    Am nächsten Tag reichte er einen Antrag auf einen zusätzlichen Rechtsbeistand für Ron ein. Die Staatsanwaltschaft hatte keine Einwände, und am 16. Juni wurde Frank Baber von Richter Miller eingesetzt, um Barney zur Seite zu stehen. Während der Vorbereitung auf die Voruntersuchung gingen Papierkrieg und juristisches Gerangel zwischen beiden Seiten weiter.
    Dennis Fritz bekam eine Zelle unweit von Ron Williamson. Er konnte Ron nicht sehen, aber zweifellos hören. Wenn Ron nicht durch eine Überdosis Medikamente ruhiggestellt war, brüllte er in einem fort. Stundenlang stand er am Gitter seiner Zelle und schrie: »Ich bin unschuldig! Ich bin unschuldig!« Seine tiefe, raue Stimme trug weit durch das überfüllte Gebäude. Er war wie ein waidwundes Tier, gefangen hinter Gitterstäben, und brauchte dringend Hilfe.
    Die Gefangenen standen ohnehin unter Stress, doch Rons Geschrei zerrte noch mehr an ihren Nerven.
    Oft brüllten Mitinsassen zurück und verhöhnten ihn wegen des Mordes an Debbie Carter. Das Zanken und Fluchen war manchmal belustigend, meistens aber zermürbend. Die Wärter holten Ron aus der Einzelhaft und steckten ihn in eine Gemeinschaftszelle mit einem Dutzend anderer. Diese Lösung erwies sich als katastrophal. Die Männer lebten förmlich Schulter an Schulter. Ron war nicht in der Lage, die ohnehin auf ein Minimum reduzierte Privatsphäre der anderen zu respektieren. Es dauerte nicht lange, da tauchte eine Bittschrift auf, unterzeichnet von Rons Mithäftlingen, in der die Gefängnisleitung inständig gebeten wurde, Ron wieder in die Isolationshaft zu überführen. Um einem Häftlingsaufstand oder Mord vorzubeugen, stimmte sie zu.
    Es folgten lange Phasen der Ruhe, in denen alle, Insassen und Wachpersonal, aufatmen konnten. Bald wusste das ganze Gefängnis, wann John Christian Dienst hatte oder Ron von den Wärtern wieder einmal eine gefährlich hohe Dosis Thorazin bekommen hatte. Das Thorazin beruhigte ihn, doch es hatte auch Nebenwirkungen. Häufig juckten Rons Beine davon, dann torkelte er stundenlang zuckend hinter seinen Gitterstäben hin und her; der »Thorazin-Shuffle« gehörte bald zur alltäglichen Geräuschkulisse. Dennis Fritz redete mit ihm und versuchte, ihn zu beschwichtigen - hoffnungslos. Es war schmerzlich, Rons verzweifelte Unschuldsbekundungen zu hören, vor allem für Dennis, der ihn am besten kannte. Ron brauchte viel mehr als nur Pillen, das war offensichtlich.
    Neuroleptika sind praktisch dasselbe wie Beruhigungsmittel und Antipsychiotika und werden im Wesentlichen bei schizophrenen Störungen eingesetzt. Thorazin ist ein Neuroleptikum mit einer schwer belasteten Vergangenheit. In den Fünfzigerjahren begann sein Siegeszug durch die psychiatrischen Anstalten. Es ist ein starkes Medikament, das kognitives Leistungsvermögen und Interesse der Patienten erheblich einschränkt. Psychiater, die das Mittel schätzen, sagen, seine Heilwirkung beruhe darauf, dass es die gestörten chemischen Prozesse im Hirn verändere oder repariere.
    Die Kritiker aber - und sie sind den Befürwortern zahlenmäßig weit überlegen - berufen sich auf Studien, die belegen, dass das Medikament viele starke Nebenwirkungen hat. Es wirkt sedierend, macht schläfrig und lethargisch, führt zu Konzentrationsschwäche, verursacht Albträume und emotionale Probleme, Depressionen, Verzweiflungszustände, bringt das Interesse an der Umwelt zum Erliegen, und es beeinträchtigt die Aufmerksamkeit und das kognitive Leistungsvermögen sowie die Motorik des Patienten. Thorazin wirkt toxisch auf die meisten Gehirnfunktionen und zerstört sie fast alle.
    Seine erbittertsten Gegner sagen, das Mittel sei »nichts anderes als eine chemische Leukotomie«. Sie meinen, der einzige echte Nutzen von Thorazin sei es, psychiatrischen Einrichtungen und Gefängnissen Geld zu sparen und Patienten und Häftlinge gefügiger zu machen.
    Ron bekam das Thorazin von den Wärtern, manchmal auf Anweisung seines Anwalts. Häufig aber gab es gar keine Überwachung. Wenn er zu laut wurde, bekam er eine Pille.
    Seit dem Mord waren viereinhalb Jahre vergangen, von denen Dennis Fritz vier in Ada verbracht hatte. Dennoch bestand bei ihm angeblich

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