Der Gefangene
Barney hatte Ron Williamson gründlich satt und war völlig frustriert angesichts der vielen Stunden, die er für den Fall hatte aufwenden müssen und die ihm bei seinen anderen, zahlenden Mandanten fehlten. Und er hatte Angst vor Ron, panische Angst. Er sorgte dafür, dass sein Sohn, der kein Anwalt war, dicht hinter Ron am Tisch der Verteidigung saß. Barney hatte vor, sich so weit wie möglich von Ron entfernt hinzusetzen, was immer noch recht nah war, und wenn dieser unvermittelt eine aggressive Bewegung in Barneys Richtung machte, sollte sein Sohn Ron von hinten anspringen und ihn zu Boden reißen.
So sah das Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und Mandant aus.
Doch am 21. April fiel nur wenigen Zuschauern in dem bis auf den letzten Platz besetzten Gerichtssaal auf, dass der Sohn den Vater vor dessen Mandanten beschützte. Mehrere von Annettes Freunden hatten angeboten, während des Prozesses neben ihr zu sitzen und ihr beizustehen. Sie hatte es abgelehnt. Ihr Bruder war krank und unberechenbar, und sie wollte nicht, dass ihre Freunde ihn in Hand- und Fußfesseln sahen. Und sie wollte auch nicht, dass sie drastische Zeugenaussagen mit grausigen Details mit anhören mussten. Sie und Renee hatten schon die Voruntersuchung nur mit Mühe durchgestanden und ahnten in etwa, was im Prozess auf sie zukommen würde. Freunde von Ron waren nicht gekommen.
Auf der anderen Seite des Mittelganges belegte die Familie Carter die gesamte erste Reihe, in der sie auch schon während des Prozesses gegen Fritz gesessen hatte. Die beiden Seiten vermieden jeden Blickkontakt miteinander.
Es war ein Donnerstag. Seit der Exhumierung von Debbie Carters Leiche und der Verhaftung von Ron und Dennis war fast ein Jahr vergangen. Rons letzte ernst zu nehmende Behandlung hatte vor etwa dreizehn Monaten im Central State Hospital stattgefunden. Nach einem Antrag von Barney hatte er einmal einen Termin bei Norma Walker in Ada bekommen. Es war ein kurzer Besuch gewesen, der so verlief wie die meisten anderen. Seit einem Jahr waren ihm seine Medikamente - wenn er denn überhaupt welche bekam -von den Wärtern zugeteilt worden. Die Zeit, die er in seiner Einzelzelle verbracht hatte, hatte nicht gerade dazu beigetragen, dass es ihm psychisch besser ging. Trotzdem interessierte sich außer seiner Familie niemand für seine psychische Verfassung. Weder die Anklage noch die Verteidigung und auch nicht der Richter hatten das Thema auch nur mit einem Wort angesprochen.
Es war Zeit für einen Prozess.
Die aufgeregte Stimmung des ersten Tages legte sich sehr schnell, als die mühsame Juryauswahl begann. Stunden vergingen, in denen die Anwälte die potenziellen Geschworenen befragten und Richter Jones einen Kandidaten nach dem anderen entließ.
Ron benahm sich anständig. Er sah gut aus - Haare geschnitten, frisch rasiert, neue Sachen. Er machte sich seitenweise Notizen, alles unter den Augen von Barneys Sohn, der zwar genauso gelangweilt war wie alle anderen, es aber trotzdem fertigbrachte, den Mandanten seines Vaters ständig im Auge zu behalten. Ron hatte keine Ahnung, warum er so aufmerksam beobachtet wurde.
Am späten Nachmittag waren die zwölf Geschworenen gewählt - sieben Männer, fünf Frauen, alle weiß. Richter Jones klärte sie über ihre Pflichten auf und schickte sie nach Hause. Sie mussten nicht in ein Hotel, um von der Außenwelt abgeschottet zu sein. Annette und Renee schöpften neue Hoffnung. Einer der Geschworenen war der Schwiegersohn eines Nachbarn, der auf der anderen Straßenseite von Annettes Haus lebte. Ein anderer war mit einem der Prediger von der Pfingstkirche verwandt, kannte Juanita Williamson und wusste sicher um deren enge Verbundenheit mit der Kirchengemeinde. Wieder ein anderer war ein Cousin eines angeheirateten Mitglieds der Familie Williamson. Annette und Renee kannten die meisten Geschworenen. Irgendwann hatten sie sie alle einmal in Ada oder der näheren Umgebung gesehen. Die Stadt war tatsächlich sehr klein.
Um 9:00 Uhr am nächsten Morgen waren die Geschworenen wieder da. Nancy Shew hielt das Eröffnungsplädoyer für die Anklage, das fast genauso klang wie das Plädoyer im Prozess gegen Fritz. Barney wollte sein Plädoyer erst halten, nachdem die Anklage ihre Beweisführung abgeschlossen hatte.
Der erste Zeuge, den die Anklage aufrief, war Glen Gore, doch seine Aussage verlief nicht so wie geplant. Nachdem er seinen Namen genannt hatte, schwieg Gore und weigerte sich auszusagen. Er riskierte damit, von
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