Der gefrorene Rabbi
die Sprache wiedergefunden hatte, erklärte Schmerl, dass es ganz natürlich war, dass sich Max eine eigene Behausung wünschte. Was ihn selbst betraf, so zog er es jedoch vor, im Getto zu bleiben.
Max beglich die Rechnung bei einem pomadisierten Kellner, der sich mit hochnäsiger Reserviertheit verneigte, und erhob sich, um den Keller zu verlassen. Schmerl, der noch saß, wollte gleich nachkommen. »Hobn sie hier ein Wasserklosett.« Erschöpft von zu viel Wein und Gefühlen, wollte Schmerl soeben vom Tisch aufstehen, als er von der Straße einen Schrei hörte, der ihm durch Mark und Bein ging. Suchend schaute er sich nach seinem Viehtreiber um, bis ihm einfiel, dass er den Metallstab nicht mehr bei sich trug, da er jetzt Techniker war; dann stürmte er die Treppe hinauf und erreichte gerade noch rechtzeitig den Gehsteig, um zu erkennen, dass sein Freund zwischen einem Waffelwagen und einem Kurzwarenstand eingeklemmt war. Umringt von einer Horde Schläger mit Tüchern über dem Gesicht, unter denen der Golfmützenträger und sein Komplize trotzdem auszumachen waren, hielt sich Max zwar noch auf den Beinen, aber das Blut lief ihm in einem trüben Strom übers Gesicht. Dann stieß er abermals einen herzzerreißenden Schrei aus, der die ganze Straße auf seine Notlage aufmerksam machte, und verschwand im Pulk der Angreifer. Beunruhigt von dem Aufsehen, das sie erregt hatten, senkten diese mit fragenden Blicken ihre Knüppel und stoben hastig davon. Kaum waren sie verschwunden, da schloss sich ein Kreis von Fußgängern um das mitgenommene Opfer, während in der Ferne bereits das Kreischen einer Sirene erklang.
Als Max aus seinem Blickfeld verschwand, wurde Schmerl aus seiner Erstarrung gerissen und stieß seinerseits ein tierisches Brüllen aus. Er stürzte auf die Straße und sprang den versammelten Schaulustigen in den Rücken, um sich kratzend und beißend zu seinem Freund durchzuschlagen. Hektisch kämpfte er gegen die Menge an, ohne auf das Zupfen an seinem Ärmel zu achten, bis dieses so dringlich wurde, dass er sich wütend umdrehte. Da stand Max, blutbesudelt, doch fest auf den Beinen, und winkte Schmerl, sich zu beeilen, los, weg hier. Zusammen hasteten sie durch Seitengassen und tauchten erst in einen Hauseingang ein, als sie mehrere Blocks zwischen sich und den Ort des Überfalls gebracht hatten. Während sich Schmerl mit dem Ärmel die Tränen trocknete, leckte sich Max das geronnene Blut von den Lippen.
»Rote Johannisbeere«, erklärte er mit Kennermiene. »Batamt.«
Hinter der Plane im Stallschuppen, wo er sich das klebrige Zeug von Gesicht und Hals wischte, erklärte Max, dass er es trotz seiner beschwichtigenden Geste in Salman Pisgats Richtung für das Beste gehalten hatte, auf das Schlimmste gefasst zu sein. Er hatte sich seiner kosmetischen Fähigkeiten entsonnen und stets ein oder zwei Päckchen Bühnenblut bei sich getragen. Auf diese Weise hoffte er, möglichen Angreifern vortäuschen zu können, dass sie ihm den erwünschten Schaden zugefügt hatten. Wenn das Opfer im Tumult eines Überfalls plötzlich tödlich verletzt schien, würde jeder der Schergen vermuten, dass ein anderer den Coup de Grâce geführt hatte. Das war sein Plan, »woß hot geklappt!«, frohlockte Max, während Schmerl, dem noch immer die Tränen über die Wangen rollten und das Herz bis in den Hals schlug, skeptisch schniefte. Nachdem er seinen Trick mit prahlerischer Ausführlichkeit geschildert hatte, bekundete sein Partner die Absicht, sogleich in die Wohnung am Riverside Drive übersiedeln zu wollen, um Max Feinschmekers Ableben zu bekräftigen. Diese Straße war die legendäre, mit prachtvollen Apartmenthäusern gesäumte Allee, die von den Gettojuden als Alrightnik’s Row bezeichnet wurde, weit entfernt vom schwindsucht- und selbstmordgeplagten Tenth Ward. Natürlich mochte dieser Umzug angesichts der großen Distanz zur Canal Street unzweckmäßig erscheinen, doch da die Fabrik schon kurz davor stand, ihren Betrieb voll aufzunehmen, ging Max davon aus, dass seine Anwesenheit vor Ort nicht mehr unbedingt erforderlich war.
Tatsächlich lief die Eisfabrik nach ihrer Eröffnung praktisch von allein. Selbstverständlich gab es Alltagsprobleme, allerdings nichts, was Schmerl mit einem Schraubenschlüssel statt des ausrangierten Viehtreibers in der Hand nicht beheben konnte. Und er begrüßte vereinzelte mechanische Pannen sogar als Gelegenheit, seinen Lehrlingen vorzuführen, wie ein geölter Kolben, ein
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