Der geheime Basar
mehr Verständnis, desto größer die Illusion.» Die Erinnerung an seine Worte stimmte mich milder. Denn Herr Ali Samimi pflegte auch zu sagen, dass wir nicht genug Liebe für zwei Kriege haben. Ich wusste, er hatte recht, und ich hatte jetzt schließlich nicht gegen Muhammads studentische Untergrundgruppe zu kämpfen. «Werdet ihr mir helfen?», fragte ich.
«Welche Hilfe erwartest du?», kam es aus allen Richtungen. «Schwule verschwinden manchmal.»
«Mach dir keine Sorgen», erklärte Muhammad zufrieden, «wir werden Erkundigungen für dich einziehen. Wir haben Leute in den Gefängnissen.»
«Ich möchte, dass wir demonstrieren. Ich will, dass seine Richter begreifen, dass ein öffentliches Interesse an ihm besteht, dass es jemanden da draußen kümmert, dass sie besser keinen Brand entfachen und ihn laufen lassen.»
Muhammad gebot mir mit einer Geste Einhalt. Er stand auf, schritt langsam zur Tür, trat in den Vorraum hinaus und schaute von dort ungeduldig zu mir hinüber, wartend, dass ich nachkäme. Er war der Führer, der Kommandant, ich der Rekrut, der gescholtene. Ich folgte ihm.
Die Zöglinge verlasen unterdessen, auf seinen Befehl hin, Gedichte, eine Versfolge, die melodisch im Hintergrund lief. «Gazelle der Wüste, erfreust dich an den offenen Weiten, brauchst kein Wasser, liebst salzige Blätter und mondkalte Nacht, doch du kennst keine Rast, deine Füße sind leicht, der Raubtiere viele, dein Rücken ist braun, weiß dein Fuß, groß sind deine Ohren, deutlich erklingt die Stimme deines Todes.»
Muhammad blickte mich zornig an, als hätte ich alle Grenzen der Unverschämtheit überschritten. «Es gab Studenten, die demonstriert haben», sagte er leise und verachtungsvoll zu mir. «Die Polizei hat eine Zeitung geschlossen, also gingen sie demonstrieren. Es erschien ihnen nicht einmal gefährlich, denn es gab damals einen gemäßigten Präsidenten, der ebenfalls glaubte, dass man Zeitungen nicht schließen dürfe. Sie wollten einfach ihre Unterstützung für ihn ausdrücken, für die Gemäßigten gegenüber den Konservativen. Du warst damals zehn Jahre alt. Haben deine Eltern es ihrem Jungen erzählt, oder wollten sie dich schützen? Als die Nacht kam, brachen vierhundert als Studenten getarnte Basidschis und Ansare Hisbollah in die Wohnheime ein, die junge Menschen von Balkonen aus dem dritten und vierten Stock nach unten auf die Steinplatten warfen, Knochen und Gelenke zerschmetterten. Sie fackelten Zimmer ab. Schleiften Studenten über den Boden. Mordeten. Polizisten in Uniform standen am Rand und sahen zu. Sechs Tage lang. Dutzende verschwanden. Dreihundert wurden verletzt. Tausend verhaftet, geschlagen, gefoltert, und wer von den Verhören zurückkehrte, hatte mit Narben übersäte Beine von den Eisenketten. Wer kann mit leeren Händen demonstrieren, ohne eine Waffe, gegenüber solcher Übermacht?»
«Du entschuldigst, Muhammad, aber was soll es mir helfen, herumzusitzen und mich an den romantischen Geschichten der Vergangenheit aufzugeilen? Und was werden mir die Erkundigungen helfen, die du im Gefängnis einziehen willst? Es wird zu spät sein.»
«Weißt du, was am Tag nach dem Aufruhr passiert ist, Kami? Zehntausende Anhänger der Konservativen und des obersten geistigen Führers marschierten in einer organisierten Machtdemonstration durch die Straßen, neue, harte Gesetze wurden im Parlament verabschiedet, und das war’s dann. Das Volk vergaß, das Volk ging zur Urne, wählte die Konservativen, und die Liberalen verschwanden in der Versenkung. Aus und vorbei. Das Volk will nur Rente und Rache. Das Volk liebt sture Versprechen und Gewalt. Das Volk liebt es, alle, für die es etwas besser werden könnte, die ein bisschen klüger oder anders sein könnten, leiden zu sehen, Mister Kami.»
«Du musst dich entscheiden, Muhammad, wenn wir Freiheitskämpfer sind, dann lohnt es sich, für die Freiheit von jemandem aktiv zu werden, den man noch retten kann. Was macht ihr denn sonst überhaupt?»
«Wir erinnern uns. Wir sind hier, gemeinsam, und erinnern uns. Wir vereinfachen die Geschichten, denn was nicht einfach war, war einfach nicht, und wir gedenken und hoffen, dass sich außer uns noch jemand erinnert, und dann wird wenigstens rühmende Anerkennung unsere Gräber wärmen, Kami, denn etwas zu verändern, momentan, ist unmöglich.»
Ich spürte, dass es nichts mehr zu sagen gab, ich verabschiedete mich nicht einmal, holte nur tief Luft, drehte mich um und ging. Muhammad blieb, wo er
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