Der geheime Basar
erwiderte sie auf der Stelle.
«Was wollen Sie damit sagen?»
«Nimm die Last der Welt von deinen kleinen Schultern, du versuchst, allen das Leben zu richten, alle zufriedenzustellen. Das ist eine zu schwere Verantwortung. Lass los. Wirf das Joch ab. Nichts wird jemals alle glücklich machen.»
Die Familie Nadschafian tauchte mit einem Mal von hinten auf. Sie traten zu uns. «Unser schmerzlich empfundenes Beileid», sagten die Herrschaften. Wir bedankten uns höflich. «Es schmerzt uns tief», insistierten sie und überhäuften Frau Safureh Mahdis mit Abschiedswünschen. Ihr dicker Junge, Mas’ud, begann zu weinen. Saß auf dem Bürgersteig und heulte. «Es wäre besser, hier keinen Lärm zu machen», bemerkte ich. Doch die Eltern versuchten nicht, ihn zu zügeln.
Ein silberner Jeep hielt. Die Tür war bereits geöffnet. Ich fühlte mich leichenhaft, wie ein lose pendelnder Kadaver. Ich starrte die alte Frau an, und sie versuchte, mich aufzuheitern. «Du wolltest einen Rat? Hier, da hast du einen: Frauen, das ist alles, was wichtig ist, entdecke, was sie wollen, und gib es ihnen, ganz und gar.» Sie grinste. Und dann legte sie mir eine alte Fotografie in den blassen Tönen von einst in die Hand, sie und ein grauhaariger Demonstrant, der den Kopf senkte, ein bekümmertes, leicht hasenschartiges Lächeln verschluckte. «Mein gescheiterter, trunkener Dichter», erklärte sie und platzierte sich auf den Hintersitz neben drei schweigende junge Sonderlinge. Vorne saßen zwei Fluchthelfer, die sich sehr bemüht hatten, wie aus den Sechzigern entsprungen auszusehen oder wie Franzosen vielleicht, mit wirrem Haar und romantisch. Der Motor ratterte weiter, und Frau Safureh suchte nach etwas, um das Ende zu besiegeln, einen Satz, der uns von ihr bliebe, der uns an sie erinnern würde. Durch den Spalt des Fensters sagte sie: «Schafe gehen zur Schlachtbank, aber ein Mensch weiß, wann er fortzugehen hat», und dann erschrak sie, denn es war unpassend, dass sie uns das als ihre letzten Worte hinterließe, also korrigierte sie sich und verkündete: «Die Welt wird sich weiterdrehen, mein Kami.» Das war’s. Die Laute zerfielen im Pfeifen des Winds, als sie in Richtung Argentina-Platz davonbrausten.
Um ein Uhr nachts reiste Frau Safureh nach Japan ab. Oder wenigstens bis zur Grenze. Sie nahm ihre Kaufurkunde für die Parzelle auf dem Mond mit, die ihr zwei Straßen von Tina Turner entfernt reserviert war. Zahra fiel ein, dass auch Babak einen Stern hatte, sie hatte ihm ja einen gekauft, in einer Zwerggalaxie, fünfzig Millionen Lichtjahre von hier, mit Aussicht auf ein Windrad, das im Dunkeln leuchtete und genau wie die Milchstraße aussah. Wo war das Dokument hingekommen? Sie wurde wütend, steigerte sich in Hysterie. «Wir suchen es morgen», versprach ich.
Ich zündete mir eine Zigarette an. Ich ertränkte mich in Koffein. Hart wie eine Leiche, flach auf den Rücken geworfen, lag ich auf dem Bett. Ich atmete schnell, kurze Atemzüge, knapp an Luft. Amir lag neben mir auf dem Teppich. Jetzt, wo wir allein waren, klappte ich zusammen wie ein sterbender alter Mann. «Was soll ich tun?»
«Erinnerst du dich an unsere letzte Schabe jalda zusammen?», fragte Amir lächelnd und schnaufte mühsam. «Erinnerst du dich? Wir gingen zu deiner Großmutter, es regnete ununterbrochen, aber die Küche war voller Melonen aller Art, Trauben, Honig und Granatäpfeln. Das Fest hatte noch nicht begonnen, aber du hattest schon den Appetit verloren vor lauter Tellerchen mit Adschil, den ganzen Rosinen, getrockneten Feigen und Kürbiskernen. Der Magen drehte sich dir die ganze Nacht über um, aber das war gut, es half, denn wir hatten uns geschworen, bis nach Sonnenaufgang wach zu bleiben. Alle waren da, drängten sich um den wackligen Holzhocker, über den deine Großmutter eine dicke Wolldecke gehängt und darunter ein Kohlebecken gestellt hatte. Deine Mutter schaltete ein Befeuchtungsgerät ein, dein Großvater erzählte Witze, die überhaupt nicht lustig waren, und wir haben nur gegessen und gegessen. Bis du einen Gedichtband von Hafez auf den Tisch gelegt und gesagt hast, Tradition ist Tradition, da gibt’s keine Abkürzungen, und von jedem von uns verlangt hast, einen Wunsch abzugeben. Dann hast du das Buch mit geschlossenen Augen irgendwo zufällig aufgeschlagen und ein Gedicht vorgelesen, um den Zeilen Ratschläge und Hinweise darauf zu entnehmen, auf welche Art sich die Wünsche verwirklichen würden. Um die Zypressen im Hof herum
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