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Der geheime Basar

Der geheime Basar

Titel: Der geheime Basar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ron Leshem
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gerne wissen, ob wir zu adoptierten Geschwistern werden könnten, sodass es uns das Gesetz erlauben würde, in der Öffentlichkeit ohne Bedenken freundschaftlich miteinander umzugehen. Ich danke Ihnen sehr in Erwartung Ihrer dringend erforderlichen gelehrten Antwort.»
    «Hochverehrter Ajatollah Karimi. Ich bin ein einunddreißigjähriger Mann. Ich habe im Chatroom eine vierundfünfzigjährige persische Frau getroffen, die auf den Virgin Islands wohnt. Sie belästigt mich nun am Telefon und per Mails, bietet mir immense Geldsummen an, wenn ich einwillige, mit ihr zusammen zu sein. Ich bin versucht, denn die Summen sind wirklich ungeheuer. Wenn ich mich verführen lasse, wäre dies eine entschuldbare Tat?»
    «An alle Welt, ich muss wieder ein Mädchen spüren», verkündete ich auf Facebook, ging zu Fuß in den Norden der Stadt, um mit Niwoscha zu schlafen, der sechzehnjährigen Katzendompteuse, und ekelte mich vor mir selbst. Ich ging nicht mehr zur Uni. Die Vormittage verbrachte ich im Bett, Amir in der Moschee. Die heißen Nachmittagsstunden verbrachten wir zusammen, unter der Motorhaube des paralysierten roten Peykans. Wir rannten von einer Werkstatt zur anderen, kauften Ersatzteile, drangsalierten Schrottsammler, bis das erste Stottern unter der Motorhaube zu vernehmen war. Ich schrie zum Balkon des letzten Stockwerks hinauf: «Zahra! Die ganze Welt kann mich mal, wir haben’s geschafft!» Eine Frau mit dunkler Sonnenbrille spähte übers Geländer zu uns hinunter, lächelte gleichmütig. «Alle Achtung, Kinder», sagte sie und zog sich wieder zurück in ihr Schneckenhaus. Sogar Herr Nadschafian zeigte sich enttäuscht angesichts ihrer Gleichgültigkeit.
    Eine Woche und drei Tage ließen wir den Peykan nicht in Ruhe. Am Ende beugte sich der Motor unter dem Druck des Gaspedals und ließ ein Röhren los. Energieströme fluteten die rechteckige Schachtel, schwappten durch die Treibstoffschläuche, kletterten die dünne, rostige Antenne hoch, flammten aus den eckigen Scheinwerfern auf. Der Oldtimer vibrierte auf dünnen, instabilen Rädern, bettelte darum, loszupreschen, der Winterschlaf war vorüber. Ich muss Zahra irgendwohin mitnehmen, dachte ich, aber wohin? Ich hatte keine Ahnung. «Wohin, Zahra?»
    «Ich bin kaum fähig, mich selbst zu ertragen», antwortete sie und zappte weiter zwischen den Billigkomödien der sieben Regierungsprogramme hin und her. Sie starb vor Langeweile und flüchtete sich zu den wilden Tieren von National Geographic. Eine traurige Geschichte aus Japan: Das Frühgeborene der Makakenäffin Marulius war gestorben. Wochenlang trug sie den leblosen Körper des Jungen weiter mit sich herum, schleppte ihn überall mit hin. Die Parkaufseher stahlen die Leiche, begruben sie und hofften, die Mutter würde es vergessen und darüber hinwegkommen. Doch Marulius’ Zustand verschlimmerte sich nur, laut jammernd suchte sie weiter nach ihrem toten Jungen, Tage, Wochen, Monate, bis zum bitteren Ende. Ihr Stamm konnte ihren Schmerz nicht lindern.
    «Warum bestrafst du dich?», fragte ich sie.
    «Warum bestrafst du dich?», gab sie die Frage zurück. «Du musst dein Studium abschließen. Du musst irgendeinen Weg einschlagen, Arbeit suchen. Schick Bewerbungen. Es gibt hier ein Peugeot-Werk außerhalb der Stadt, das wäre gut für dich.» Damit kroch sie wieder in die Küche zurück.
    Zahras kriechender Gang in die Küche wurden begleitet von tiefen Seufzern von Selbstmitleid. Sie verstrich die Marmelade, langsam, beschmierte jedes Eck der Brotscheibe, langsam, bis das Brot darunter nicht mehr sichtbar war. Dreißig Jahre hätten Zahra eigentlich daran gewöhnen müssen, uninteressante Brotscheiben langsam mit Marmelade zu bestreichen, aber nein. Für die meisten Menschen ist Langeweile eine Lebensart, doch im Gegensatz zu ihnen hatte Zahra etwas ganz anderes gekannt. Sie hatte einen Lebenszweck gehabt. Am Ende würde sie sterben, anonym. YouTube würde sich erinnern, gesegnet sei Allah, aber die Menschen würden sie vergessen. Sie würde fortgeschwemmt wie die Ameise in der Küchenspüle, keine Angst war jemals stärker gewesen als diese, und sie hatte sich für sie erfüllt. Auch in mir hauste diese Angst. Ein Mieter in einem Wohnblock zu sein. Ein Balkon auf eine graue Straße hinaus. Ein Kühlschrank, eine Einkaufsliste. Hüttenkäse, Milch, ein Brotring, zehn Eier, weißer Reis, Mehl. Menschliche Masse, die entsteht, sich vermehrt, sich versklaven lässt und krepiert. Hätte ich nur ein

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