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Der geheime Basar

Der geheime Basar

Titel: Der geheime Basar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ron Leshem
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Journalisten ins Gefängnis geworfen, Studentenorganisationen zerschlagen und Freiheitskämpfer unterdrückt und ermordet. So wollte es das Volk, denn das Volk hatte die Konservativen gewählt.
    Die Gedenkseite für die Opfer der Kettenmorde blieb verlassen auf dem Bildschirm stehen, schwebte im Netz, eine weiße Seite mit einer Tabelle von einhundertsieben Namen.
     
    Die Pseudo-Polinnen gaben nicht auf. «Wie geht es dir, schüchterner Prinz? Bist du noch da? Komm, zieh dich mit uns aus.»
    «Nein, ich will jetzt keine Polinnen. Noch nicht, tut mir leid. Ich will lesen.»
    «Wir sind heiß, kleiner Perser. Gleich werden wir auch feucht sein. Das solltest du nicht versäumen.»
    Ich versäumte es. Las. Die freie Enzyklopädie. Der Völkerfrühling. Der Prager Frühling. Der Völkerherbst. Die Samtene Revolution von Václav Havel. Ich hätte gerne auf einem Kanonenrohr gestanden, umwunden mit Blumengirlanden, mit Nilufar und Amir im Arm, unter den pfeifenden Rauchgasgranaten und dem Strahl der Wasserwerfer. Dass wir mit dem bloßen Körper Panzer aufhielten. Dass wir uns mitten auf dem Azadi-Platz auszögen und gemeinsam in die Springbrunnen von Daneschdschu, im Studentenviertel, sprängen, um das Böse zu zerschmettern. Doch Amir würde nicht bei uns sein. Amir würde uns auf der anderen Seite gegenüberstehen, in der Unterstützerreihe der Abadgaran, uns mit einer Menschenkette bewaffneter Freiwilligenmilizen, Sittenpolizei und Revolutionswächtern blockieren. Vielleicht würde er den Lauf eines Gewehrs auf uns richten? Würde er auf uns schießen? Ich war mir nicht mehr sicher.
    Ich surfe. Lese. Die Bastille. Der Kreml. Der Pekinger Frühling, eine vorübergehende Lockerung, die kam und verschwand. Als ich aufwuchs, war ich sicher, dass die Freiheit der Schlusspunkt des Stroms sei, auf dem die Welt schwamm, schwerfällig, verwirrend, manchmal einhaltend, doch sie schwamm und würde am Ende ankommen, denn dort lag, natürlich und aller Logik nach, die Zukunft. All die Opfer auf dem Weg würden nur noch ein verstaubtes, sonderbares Denkmal darstellen, die Freiheit war selbstredend das Endziel der Expedition, und alles, was hier früher einmal passiert war, würde dann vorbei sein. Wieso hatte die Menschheit das nicht schon früher gewusst? Aber vielleicht ist dem nicht so? Vielleicht hat Amir recht? Vielleicht hat Muhammad vom Schwarzmarkt recht? Vielleicht ist alles vorübergehend, und die Freiheit ist weder Fortschritt noch die Lösung, ganz bestimmt nicht der Abschluss, sie ist hier nur vorbeigestreift für einige Dekaden, an einigen Orten. Denn die Welt steigt auf und stürzt ab, das ist ihre Natur, und sie gehört den Barbaren. Wir alle sind Barbaren in Muhammads Augen, nur dass sich einige von uns Masken aufgesetzt haben.
    Die Polinnen sagen: «Das ist alles Unsinn, es gibt Menschen, denen es einfach Spaß macht, die Welt in Flammen aufgehen zu sehen. Zu töten, zu vernichten, zu morden, auszulöschen, zu metzeln, zu schlachten, Leben zu rauben. Aber wir, als Polinnen, wollen über niemanden etwas Schlechtes sagen. Gesund sollen sie sein.»
    «Aber wenn die Freiheit nicht mehr als ein vergängliches Kapitel ist, was wird dann bleiben, Polinnen?» Eine illegale Erinnerung vielleicht, der man nur auf Festen in der Untergrundstadt gedenkt, auf dem Schwarzmarkt verbotener Bücher in der Art von Muhammad? Das ist genau, was er will, er rüstet sich für eine ganze Welt, die wie unsere ist. Sehr romantisch.
    Die Polinnen sagen: «Alles Unsinn, eines Tages haben die Amerikaner beschlossen, dass der Rassismus vorbei sei, keine Sklaverei mehr, die Schwarzen können wählen, und die Frauen dürfen Einfluss nehmen, und eines Tages haben die Briten beschlossen, dass der Kolonialismus tot sei, und das war’s, aber muss von dem Augenblick an die ganze Welt gehorchen? Ist jeder, der sich in einem anderen Tempo verändert, ein Barbar? Nur schade, dass die Sklaverei nicht verschwunden ist, sie sieht nur anders aus, und die Amerikaner sind immer noch Kolonialisten und Imperialisten und Kapitalisten und Chauvinisten und ganz sicher mit Stereotypen abgefüllte Rassisten, die nach Vorherrschaft gieren, und alles ist Theater.»
    «Ausgerechnet auf die Amerikaner seid ihr wütend? Was habt ihr gegen die Amerikaner?»
    «Für sie sind wir bestenfalls Nutten.»
    «Wer sind Nutten für die Amerikaner?»
    «Wir, die Russinnen.»
    «Aber ihr seid Polinnen, das heißt, Israelinnen.»
    «Nein, wir sind Russinnen. Russinnen mit polnischem

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