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Der geheime Basar

Der geheime Basar

Titel: Der geheime Basar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ron Leshem
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anschauen, werde ich, wenn der Tag kommt und kein Mensch mehr wegen meiner Attraktivität um mich herumtanzt und kein Mensch weiß, wie besonders ich war, werde ich dann noch eine ausreichend süße Falle haben, um alle anzuziehen und sie dazu zu bringen, mich auch in meinen letzten Augenblicken zu wollen, sogar wenn ich halb verfault bin? Das ganze schnelle Leben auf dem Weg bis zum Ende ist nur eine andere Art der Suche nach dieser Falle. Denn ansonsten werden sie dich, ohne zu überlegen, wie ein schwaches, verwundetes Tier dem Tod überlassen, einsam im Schnee. Du wirst an der Seuche chronischer Unzufriedenheit sterben, die uns alle erbarmungslos attackiert. Du willst keinen vorübergehenden Ruhm und keine berauschenden Illusionen von Liebe oder Glauben. Du willst ein gutes Ende.» Sie trat auf mich zu, spießte mich mit einem vorwurfsvoll drohenden Blick auf, ergriff meine beiden Hände und sagte: «Mein lieber Junge, breite deine Flügel aus und flieg fort von hier. Flieg.»
    Ich bin ein schwaches, verwöhntes Kind, dachte ich. Man hat mich zu sehr geschützt. Ich war wie ein Küken ohne Flügel an den Ufern eines grünen Flusses, ein Küken, das sich nirgendwohin bewegen wird, dessen Ende gleich seinem Anfang sein wird, weder gut noch schlecht, nur ein banales Ende. Aber ich hatte beschlossen, mich am eigenen Schopf aus dem Sumpf Anzalis herauszuziehen, mich anzustrengen, keine Zeit zu vergeuden, meine Familie stolz zu machen, damit man mich nicht mit Ekel und Mitleid anschauen würde. Ich wollte wachsen, ich wusste nur nicht, wohin genau, und wie sollte man ein gutes Ende erdenken, wenn noch gar nichts begonnen hatte? Keine Ahnung.
    Amir und ich hatten häufig über ähnliche Dinge nachgedacht, hauptsächlich im Sommer, wie am Donnerstagabend, wenn sich das ganze Viertel im Freiluftkino im Schulhof versammelte. Eine große weiße Stoffbahn wurde vom Dachrand ausgeworfen, und davor stand eine bunte Mischung aus Holzbänken, Klappstühlen und Plastiksesseln, Schemeln und sogar Rollstühlen. Amir und ich sahen vom Dach aus zu, das Publikum im Blick, denn das Publikum zu beobachten war interessanter als die abgedroschene Handlung der Filme. Wir wollten sehen, wie ganze Reihen von Familien im gleichen Augenblick die Gesichter verzogen – schau, sie sind beunruhigt, erschrocken, und jetzt lieben sie mit –, als ob sie den Einsatz von einem Dirigenten erhalten hätten. Im nächsten Moment hassten sie, verliebten sich aufs Neue, schmolzen dahin. Schnurrbärtige, dicke, hartgesottene Männer verwandelten sich in empfindsame Kleinkinder, von fiktiven Gestalten zum Weinen gebracht. Wir lagen auf dem Bauch am äußersten Ende des Dachbalkens und reckten die Köpfe hinaus. Ich beobachtete das Publikum, und Amir beaufsichtigte die Leinwand und meldete die vorhersehbaren Entwicklungen. Der Film «Leidenschaft der Liebe» zum Beispiel. Doch, es war möglich, die Leidenschaft der Liebe ohne eine einzige Berührung zu erleben, bei uns war alles möglich, und Tatsache ist, dass das Publikum durchdrehte. Ich sagte immer zu Amir: «Das ekelt mich an. Wir beide dürften keinesfalls wie diese schlichten Gemüter sein, deren Gefühle ein verborgener Dirigent oder Zauberer beherrschte, wir müssten selbst der Zauberer sein und dirigieren.» Und Amir sah mich jedes Mal merkwürdig an, wobei ich nicht wusste, ob er mich nicht verstand oder nicht damit einverstanden war. Einen Augenblick vor dem Happy End stürzten wir los, sprangen von dem hohen auf das niedrige Dach, und von dort aus rutschten wir zum alten Treppenschacht und schafften es, beim Publikum anzukommen, wenn es sich gerade zu zerstreuen begann, um die Unterhaltungen zu belauschen und uns zu vergewissern, dass sie den richtigen Helden liebten, Mitleid mit der Unglücklichen hatten und die Bösen in ihren Augen böse waren, auch wenn wir nichts von dem gehört hatten, was zwischen den Reihen geflüstert worden war. Und tatsächlich, die Formel funktionierte immer. Wir blieben als Letzte auf dem Platz, halfen Mussa, dem Pedell, die Stühle in die Turnhalle zu bringen, und sagten: «Auweia, nie im Leben dürfen wir wie Mussa, der Pedell, werden.»
    Wir standen schweigend da, Frau Safureh und ich, sie spülte das Geschirr, und mir war es peinlich, sie jetzt zu verlassen, also trocknete ich ab und stellte das Geschirr mit militärischer Präzision auf die Marmoranrichte. Und ich dachte, offenbar haben wir heute Abend einen empfindlichen Nerv bei ihr getroffen, meinetwegen,

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