Der geheime Basar
muss.
Ich liebte solche Rätselhaftigkeiten, diese historischen, wie das Leben einer Frau, die weder Churchill noch der Schah war, sondern einfach irgendeine Frau, die schon seit dreiundsiebzig Jahren hier herumlief, was hieß, dass alle Katastrophen in ihren Augen klein wirkten und sogar der Weltkrieg für sie erst vorgestern stattgefunden hatte. Ich konnte sie mir nicht als kleines Kind vorstellen. Das heißt, ich konnte es schon, aber nur in Alte-Frauen-Kleidung und mit zänkischem Charakter. Es musste eine Ehe in Frau Safurehs Leben gegeben haben, Kinder, Betrug, Scheidung vielleicht, eine Menge Dinge, und mochten sie auch schlecht gewesen sein, jetzt waren sie nur noch Gegenstand der Sehnsucht. Zahra erinnerte sich, dass sie einmal, ein einziges Mal, einen Ehemann erwähnt hatte.
«Was hat sie gesagt?», fragte ich.
«Dass sie einen Mann hatte.»
«Aber was hat sie genau gesagt?»
«‹Mein Mann spielte immer Tennis in der türkischen Botschaft.› So hat sie es gesagt.»
«Und das war alles?»
«Das war’s.»
«Und du hast die Gelegenheit nicht genutzt?»
«Wozu genutzt, Kami?»
«Um Fragen zu stellen. Wer dieser Ehemann denn überhaupt war, dass ihn die Türken zum Tennis eingeladen haben? Hast du nicht gefragt?»
«Nein, wozu sollte das gut sein?»
Ich rannte Frau Safureh ins Treppenhaus nach, die Stufen hinunter und stand hinter ihr, als sie den Schlüssel ins Türschloss schob und langsam drehte. Ich wollte nicht, dass sie allein war. Als sich die Tür öffnete, schob ich mich hinter ihr hinein, in ihre geheime Zuflucht, die keiner je gesehen hatte. Ich hörte ihr Herz klopfen, als ich aufmerksam das Wohnzimmer musterte, in dem ein bitterer Geruch nach schwarzen Oliven und Tee stand und eine merkwürdige Mischung aus stilvollen und dürftigen Gegenständen vorherrschte – nebst einem Blutdruckmesser und den Streifen des winterlichen Mondlichts, das vom Küchenfenster hereinfiel. Das Wohnzimmer war klein, der Balkon allerdings groß. Ich ließ mich in einer Hängematte aus Palmwedeln nieder und wartete, während sie sich das Gesicht waschen ging. Sie kehrte nach einer ganzen Weile in ihrem Hausgewand zurück, einem blauen Leinenanzug, der sicher aus ihrem früheren Leben stammte, und Schnürsandalen. In der Gästeecke war der Lampenschirm mit Gold- und Silberketten dekoriert, doch es kamen nie Gäste. Es gefiel ihr anscheinend, sich an die Jahre zu erinnern, als sie Schmuck getragen hatte. «Was ich am meisten an dir liebe, Kami», sagte sie, «ist, dass deine Stimme Musik hat, Transparenz besitzt.»
«Was meinen Sie damit, meine Stimme hat Musik?», fragte ich.
«Jeder Gedanke von dir klingt präzise wie eine Harfensaite an, sodass man sofort wissen kann, was du denkst.»
«Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt zum Beispiel denke.»
«Du hast unendlich viele Klänge, als wärst du gerade erst aus dem Ei geschlüpft. Und wie du das Leben liebst, und die Menschen.»
«Sie meinen, ich sei naiv.»
«Ich meine, dass du ein einziges pulsierendes, gutes Herz bist.»
«Und Sie sind überzeugt, dass es zerbrechen wird.»
«Sicher wird es zerbrechen», stellte sie mit der Entschiedenheit einer Richterin fest. Das Notlicht warf einen weißen, elliptischen Fleck auf sie, und sie lehnte sich nachdenklich an das Holzregal. Ich wollte zu Zahra und Babak oder in mein Zimmer zurückkehren, doch sie fragte plötzlich: «Wie siehst du dein Leben?»
«Was meinen Sie genau damit?»
«Hast du entschieden, wohin es von hier aus führen soll?»
«Wie kann man das wissen?»
«Man kann. Schließ die Augen und stell es dir vor, denk an Gesichter großer Menschen, geh eines nach dem anderen durch und warte, bis dir dein Herz ein starkes Zeichen gibt. Wessen Leben würdest du im Alter gerne haben? So wirst du es wissen.»
«Im Alter?»
«Ja, wer dieses sinkende Schiff als Sieger verlässt. Ein gutes Ende. Das ist es, was zählt.»
«Danach soll ich leben? Mein ganzes Leben ans Ende denken?»
«Was ist wichtiger als ein gutes Ende, Kami? Das ist sogar weniger kompliziert, als es scheint. Frage dich einfach hin und wieder, wenn du Entscheidungen triffst: Werden meine letzten Atemzüge voller Zufriedenheit sein, werde ich, wenn ich mit knirschenden Rippen in einem kalten Krankenhausbett liege, umringt von jungen Ärzten, die sicher sind, dass sie für immer so begehrenswert bleiben, werde ich sie mit hintergründigem Lächeln anblicken, oder werden sie mich mit Ekel und Mitleid oder sogar überhaupt nicht
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