Der geheime Basar
von Ihren großen Augenblicken der Gerechtigkeit.» Die ersten Male wich sie immer aus und erwiderte ihm, sie habe keine Ahnung, wo sie beginnen sollte, oder dass das Schweigen den Bescheidenen und den Erfolgreichen gleichermaßen gut anstehe, doch sehr bald schon trat sie mit Geschichten von weisen Urteilen und großen, herzzerreißenden Augenblicken ins Treppenhaus hinaus. So verstrichen die Tage und verstrickten sie in einem Lügendickicht, aus dem es kein Entrinnen mehr gab, bis sie schließlich so süchtig nach den Lügen war, dass ihr nichts anderes mehr blieb.
Dann brach der Krieg aus, Arian verließ die Stadt. Die Sirenen zerrissen den nächtlichen Schlaf. Raketen schlugen ein. Das Radio rief die Frauen, die allein in der Etappe zurückgeblieben waren, dazu auf, mit Kleidern zu Bett zu gehen, verhüllt und züchtig, damit sie nicht eine Rakete in einem unziemlichen Nachthemd auf die Straße hinaussprengen oder sie etwa nackt unter einem Trümmerhaufen begraben und sich so den lüsternen Augen der heldenhaften Rettungstruppen erschließen würden. Zahra schlug vor, dass sie und die Richterin zusammen im Schutzraum sitzen könnten, allein zurückgebliebene Frauen, die einander stützten, denn es sah so aus, als bröckelten die Mauern ihrer unnahbaren Nachbarin. Doch vergebens. Frau Safureh weigerte sich höflich und lehnte auch Zahras zweite vernünftige Idee ab: abwechselnder Einkaufsdienst, ein bequemes Arrangement für zwei Frauen wie sie, die so ungern aus dem Haus gingen. Zahra kehrte immer von Soleimani, dem Krämer, zurück, schlug die Tür zu, presste ihr Ohr dagegen und hörte erbittert, wie haargenau in dem Moment unten die Tür von Frau Safureh quietschte, und vom Balkon aus konnte sie beobachten, wie diese mit einem Einkaufskorb unter die Bäume am Gehsteig schlüpfte, offenbar der Meinung, man bemerke sie nicht, und zu Soleimani eilte. Zahra schloss daraus, dass die Alte sie hasste, und versuchte demonstrativ jeden Kontakt mit ihr zu vermeiden, bis auf das monatliche Zusammentreffen bei Barzahlung der Miete.
Doch Arian wurde getötet. Und als Arian tot war, schien es, dass ihn Frau Safureh, plötzlich eine empfindsame Frau, mehr als alle übrigen Nachbarn betrauerte. Es gab keinen Leichenzug mit schwarzgekleideten Männern in Maßanzügen, bloß ein winziges Häuflein, das Zahra in seiner Armseligkeit demütigte, war versammelt. Sie wären besser beide in den Anfangstagen gestorben, umringt von Berühmtheiten, fast international, umarmt von den Reichen des Landes, die ihnen zu Ehren höchstwahrscheinlich eine Zeremonie von erlesenem Geschmack veranstaltet hätten, mit Trauerreden tiefster Wertschätzung wie bei Hitchcock, mit sanften Liebesworten wie bei John Lennon – ein professionelles Begräbnis, gepaart mit Trauer. Doch die Zeremonie war kurz, fast beleidigend, die Angehörigen konnte man an zwei Händen abzählen, und außer ihnen standen bloß noch ein paar sonderbare, unbekannte Gestalten herum – Zahra war sich sicher, dass sie aus Schadenfreude gekommen waren. Nur Frau Safureh verfolgte das Geschehen vom Pfad aus, etwas entfernt von der Grabstelle, hatte die Brauen zusammengezogen vor lauter Kummer, und ihre Augen hingen an der Witwe, Augen voll tiefem Verständnis, die ihre Nähe suchten und den Schmerz des Verlusts zu ermessen wussten.
Die Veranstaltung war schnell vorbei. Keine Bewirtung und kein überflüssiges Geschwätz, so hatte die Witwe es gewollt. Zwei Stunden später war sie bereits allein in der Wohnung, wanderte durch die Zimmer und versuchte, sich ein Leben ohne ihn auszumalen. Sie legte sich auf das Sofa, unterdrückte jeden Drang zu weinen und versuchte, ihre Zukunft neu zu schreiben. Schon einmal war sie, als die Revolution kam, umgeschrieben und jetzt mit endgültiger Grausamkeit besiegelt worden. Genau in dem Moment, als sie begriff, dass dieses Alleinsein zu viel für sie war, als sie das schnelle Ende der Zeremonie bereute und ihr schien, dass sie sich wohl oder übel aus dem dritten Stock stürzen müsste vor lauter Lärm im Kopf, da schlug ein hartes, lautes Klopfen an die Tür. Vor ihr stand Frau Safureh mit einem Maulbeerkuchen, wie ihn Zahra heute noch liebte. Damit trat sie endlich in Zahras Leben ein, sie wechselte sich sogar mit ihr beim Einkaufen ab – bis Babak kam und anfing, für beide die Einkäufe zu machen –, und seitdem waren die beiden die engsten Freundinnen, ohne Fragen zu stellen, denn es gibt Antworten, die man nicht aussprechen
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