Der geheime Garten
vielleicht ein Geist oder ein Traum, und ich meinte das gleiche von ihm. Es war seltsam, so allein miteinander mitten in der Nacht, und wir kannten uns doch gar nicht.«
»Die Welt geht unter«, sagte Martha.
»Was fehlt ihm eigentlich?« fragte Mary.
»Das weiß niemand mit Sicherheit«, sagte Martha. »Mr. Craven verlor die Nerven, als der Junge geboren wurde. Die Ärzte meinten, man müßte Mr. Craven in ein Sanatorium schicken. Es kam daher, weil Mrs. Craven starb. Das habe ich dir schon erzählt. Er wollte das Kind nicht sehen. Er tobte und sagte, der Junge würde einen Buckel haben so wie er, und es wäre besser, wenn er stürbe.«
»Hat Colin denn einen Buckel?« fragte Mary. »Er sah doch gar nicht so aus.«
»Er hat ihn noch nicht. Aber es fing alles falsch an. Meine Mutter sagte, so viel Unvernunft und Wahnsinn in einem Haus würden jedes Kind krank machen. Sie hatten Angst, sein Rücken könnte schwach sein, und achteten darauf, daß er immer nur liegt und nie umhergeht. Eine Zeitlang hatten sie ihm einen Panzer umgelegt, aber er wehrte sich so sehr dagegen, daß er erst recht krank wurde. Dann kam ein berühmter Arzt und sagte, der Panzer müsse sofort wieder weg. Er sprach sehr unfreundlich mit dem anderen Doktor. Er sagte, es würde zu viel an dem Jungen herumgedoktert, man müsse ihn in Ruhe lassen.«
»Ich glaube, er ist schrecklich verzogen«, sagte Mary.
»Er ist der schlimmste Junge, den es gibt«, sagte Martha. »Damit will ich nicht sagen, daß er nicht wirklich krank ist. Er hat Husten gehabt und schreckliche Erkältungen, die ihn fast getötet haben. Einmal hat er Nervenfieber gehabt und einmal Typhus. Mrs. Medlock war furchtbar erschrocken. Einmal war es, als wäre er gar nicht mehr bei Verstand, und er sprach ganz verworren mit der Krankenschwester. Da sagte die Schwester: Diesmal stirbt er, und das wäre das Beste für ihn und für alle anderen. Sie sah ihn an, und da riß er seine Augen weit auf und schaute sie ganz verständig an. Sie wußte nicht, was sie denken sollte. Er sagte: Du gibst mir sofort etwas Wasser und hörst auf zu reden. «
»Glaubst du, daß er sterben wird?« fragte Mary.
»Mutter sagt, sie kann sich nicht vorstellen, daß ein Kind leben kann, wenn es keine frische Luft bekommt und nur auf seinem Rücken liegen und Bilderbücher ansehen und Medizin schlucken muß. Er ist schwach und will nicht ins Freie gebracht werden. Er erkältet sich dann so leicht. Er behauptet, es mache ihn krank.«
Mary schaute ins Feuer. »Es sollte mich nicht wundern, wenn es ihm nicht guttäte, in den Garten hinauszugehen und zuzusehen, wie die Blumen wachsen. Mir hat es auch geholfen.«
»Er hatte einen seiner schlimmsten Anfälle, als man ihn in den Garten zum Springbrunnen brachte, wo viele Rosen stehen. Er hatte in der Zeitung gelesen, daß manche Leute Rosenfieber bekämen. So nannte er es. Und er fing an zu niesen. In diesem Augenblick kam ein neu eingestellter Gärtner vorbei, der noch nicht über ihn Bescheid wußte. Der sah ihn neugierig an. Colin steigerte sich in einen Anfall hinein und sagte, der Gärtner hätte ihn angestarrt, weil er einen Buckel bekomme. Er schrie wie im Fieber die ganze Nacht.«
»Wenn er ein einziges Mal so mit mir umgeht, werde ich nie mehr hingehen und ihn besuchen.«
»Wenn er will, daß du kommst, dann wirst du schon hingehen müssen«, sagte Martha. »Das mußt du von vornherein wissen.«
Kurz danach klingelte es, und Martha rollte ihr Strickzeug zusammen.
»Die Krankenschwester will sicher, daß ich komme und ein bißchen bei ihm bleibe. Ich hoffe nur, er ist gut gelaunt.«
Sie war etwa zehn Minuten fort gewesen, als sie mit verwirrtem Gesicht zurückkam.
»Ganz bestimmt hast du ihn verhext«, sagte sie. »Er sitzt auf dem Sofa und schaut Bilderbücher an. Er hat der Krankenschwester befohlen, bis sechs Uhr fortzugehen. Ich soll mich im Zimmer nebenan aufhalten. Kaum war die Schwester weg, da hat er mich gerufen und gesagt: Ich möchte, daß Miß Mary Lennox kommt und sich mit mir unterhält. Und vergiß nicht, du darfst mit keinem Menschen darüber sprechen. Das sagte er. Geh jetzt zu ihm, Mary, so schnell du kannst.«
Mary entfernte sich sogleich. Ihr lag zwar nicht so viel an Colin wie an Dickon, aber sie wollte doch gern bei ihm sein.
Ein helles Feuer brannte im Kamin, als sie das Zimmer betrat. Bei Tageslicht sah sie, daß es wirklich ein sehr schönes Zimmer war. Teppiche und Vorhänge waren von auserlesener Farbe, die Bilder und
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