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Der geheime Garten

Der geheime Garten

Titel: Der geheime Garten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frances Hodgson Burnett
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Martha.«
    »Jetzt bin ich aber lange hiergewesen«, sagte Mary. »Soll ich nun gehen? Deine Augen sind ganz schläfrig.«
    »Ich wollte, ich schliefe ein, bevor du weggehst«, sagte er scheu.
    »Mach die Augen zu«, sagte Mary und zog ihre Fußbank näher heran. »Ich mache jetzt, was meine Ayah in Indien immer getan hat. Ich streichle deine Hand und singe ganz leise.«
    »Das gefällt mir vielleicht«, sagte er ganz erschöpft.
    Sie lehnte sich an das Bett und faßte nach seiner Hand. Sie streichelte sie und sang ganz leise ein altes Lied auf hindustanisch.
    »Das tut gut«, sagte er schläfrig. Und sie sang und streichelte seine Hand. Bald lagen seine dunklen Wimpern fest auf den Wangen, seine Augen waren geschlossen. Er schlief. Sie erhob sich leise, nahm die Kerze und stahl sich lautlos aus dem Raum.

Ein junger Rayah
    Am nächsten Morgen lag das Moor im Nebel. Der Regen fiel noch immer in Strömen. Ans Hinausgehen war nicht zu denken. Martha war so beschäftigt, daß Mary keine Gelegenheit fand, mit ihr zu sprechen. Aber am Nachmittag bat sie sie, mit ihr zusammen im Kinderzimmer zu bleiben.
    Martha brachte die Strümpfe mit, die sie immer strickte, wenn sie nicht gerade mit etwas anderem beschäftigt war.
    »Was ist mit dir?« sagte sie, kaum hatte sie sich gesetzt. »Du siehst aus, als hättest du mir etwas zu sagen.«
    »Stimmt. Ich habe herausgefunden, wer weint!« sagte Mary.
    Martha ließ den Strickstrumpf auf die Knie sinken und sah Mary entsetzt an.
    »Das ist nicht wahr!«

    »Ich hörte es wieder heute nacht«, fuhr Mary fort. »Und ich bin aufgestanden und habe gesucht, woher es kam. Es war Colin. Ich habe ihn gefunden.«
    »Oh, Mary«, sagte sie fast weinend, »das hättest du nicht tun sollen — wirklich nicht! Ich habe dir nie etwas von ihm erzählt. Jetzt werd' ich nichts als Schwierigkeiten haben. Ich werde meine Stelle verlieren, und was soll Mutter dann tun?«
    »Du wirst deine Stelle nicht verlieren«, sagte Mary. »Er war glücklich, weil ich zu ihm kam. Er redete und redete und sagte, er freue sich, daß ich gekommen sei.«
    »Wahrhaftig?« fragte Martha. »Bist du ganz sicher? Du weißt nicht, wie er ist, wenn ihn etwas ärgert. Er ist ein großer Junge, aber er weint wie ein Baby, und wenn er in Wut gerät, dann schreit er ganz furchtbar, nur um uns alle zu erschrecken.«
    »Er war nicht ärgerlich«, sagte Mary. »Ich fragte ihn, ob ich fortgehen sollte, aber er hat mich gebeten, dazubleiben. Er stellte mir Fragen. Ich saß auf einer großen Fußbank und erzählte ihm von Indien, von dem Rotkehlchen und den Gärten. Er wollte mich nicht mehr weggehen lassen. Das Bild seiner Mutter hat er mir auch gezeigt. Ehe ich fortgegangen bin, habe ich ihn in den Schlaf gesungen.«
    Martha atmete hastig vor Erstaunen.
    »Ich kann dir kaum glauben«, beteuerte sie. »Du hättest ebensogut geradewegs in die Höhle des Löwen hineinlaufen können. So wie er ist, hätte er einen Anfall bekommen und das ganze Haus zusammenschreien können. Er will nicht, daß Fremde ihn ansehen.«
    »Ich durfte ihn ruhig ansehen. Ich habe ihn die ganze Zeit angesehen, und er mich. Wir haben uns angestarrt.«
    »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, rief Martha aufgeregt. »Wenn Mrs. Medlock es herausfindet, wird sie denken, ich habe ihr nicht gehorcht und dir von ihm erzählt, und dann kann ich meine Sachen packen und nach Hause gehen.«
    »Er wird Mrs. Medlock noch nichts sagen. Zuerst soll es ein Geheimnis bleiben«, sagte Mary mit fester Stimme. »Und er sagt, jeder muß tun, was ihm gefällt.«
    »Das ist allerdings wahr — der böse Junge!« seufzte Martha und fuhr mit der Schürze über ihre Stirn.
    »Er sagt, Mrs. Medlock muß ihm auch gehorchen. Und er möchte, daß ich jeden Tag komme, um ihm etwas zu erzählen. Und du sollst mir bestellen, wann er mich sehen will.«
    »Ich?« rief Martha. »Ich werde meine Stelle verlieren — das ist sicher!«
    »Das wirst du nicht, wenn du tust, was er sagt«, erklärte ihr Mary.
    »Du willst aber doch nicht sagen«, stammelte Martha mit weitaufgerissenen Augen, »daß er nett zu dir war?«
    »Ich glaube, er mochte mich sehr.«
    »Du mußt ihn verhext haben«, entschied Martha und atmete tief auf.
    »Glaubst du an Zauberei?« fragte Mary. »In Indien habe ich viel über Zauberei gehört, aber ich kann nicht hexen. Ich ging einfach so in sein Zimmer, und ich war so überrascht, daß ich ihn nur anstarrte. Er drehte sich um und starrte mich auch an. Und er dachte, ich sei

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