Der geheime Garten
wieder ein böses Fieber bekommen. Ich habe sogar das Gefühl, daß ich es bekomme, schon bald, jetzt schon vielleicht. Ich will nicht, daß meinem Vater Briefe geschrieben werden. — Ich will es nicht, hören Sie? Sie machen mich wütend, und Sie wissen, daß das für mich schädlich ist. Mir ist schon ganz heiß. Ich mag nicht, daß man Briefe über mich schreibt, so wenig wie ich mag, daß man über mich redet oder mich anstarrt.«
»Sei ruhig, mein Junge«, hatte Dr. Craven beschwichtigend gesagt, »ohne dein Einverständnis wird nichts über deinen Zustand geschrieben. Aber du bist zu empfindlich. Du darfst dir nicht selbst schaden und deine Besserung gefährden.«
Seither sagte Doktor Craven nichts mehr davon, daß er Mr. Craven schreiben wolle. Er warnte die Schwester, irgendeine Andeutung dieser Art vor seinem Patienten zu machen.
»Dem Jungen geht es bedeutend besser«, sagte er. »Seine Fortschritte sind fast nicht normal. Jetzt tut er aus freien Stücken das, wozu wir ihm vergeblich rieten. Trotzdem gerät er immer noch zu leicht in Erregung. Wir dürfen nichts sagen, was ihn aufregt.«
Mary und Colin waren nach der Unterhaltung mit Doktor Craven beunruhigt. Sie berieten aufgeregt miteinander. Und da wurde der Plan entwickelt, von jetzt an eine bestimmte Rolle zu spielen.
»Ich fühle mich jetzt fast verpflichtet, einen Anfall zu kriegen«, sagte Colin mißvergnügt. »Mir liegt aber nichts an einem Anfall. Ich fühle mich auch nicht elend genug, um ihn vorzutäuschen. Ich glaube fast, ich könnte beim besten Willen keinen mehr bekommen. Die Idee vom Buckel kommt mir schon gar nicht mehr in den Sinn, und es fällt mir enorm schwer, mir grauenhafte Sachen vorzustellen. Doch wenn sie wieder von einem Brief an meinen Vater sprechen, muß ich mir irgend etwas einfallen lassen!«
Er nahm sich vor, weniger zu essen. Aber es war nicht einfach, diesen großartigen Gedanken auszuführen, weil Colin jeden Morgen mit einem gewaltigen Appetit aufwachte. Auf dem Tisch neben seinem Sofa stand jeweils sein Frühstück, bestehend aus selbstgebackenem Brot, frischer Butter, nestfrischen Eiern, Himbeermarmelade und Schlagsahne. Mary frühstückte jetzt immer bei Colin. Wenn sie dann am Tisch saßen, sahen sie sich verzweifelt an, besonders wenn zarte Scheiben von gebackenem Schinken unter dem silbernen Pfannendeckel verlockende Düfte ausströmten.
»Ich glaube, heute essen wir alles auf, Mary«, sagte Colin schließlich. »Wir können ja beim Lunch etwas zurücklassen und einen Teil des Abendessens.«
Aber dann konnten sie sich doch nie entschließen, etwas stehenzulassen und zurückzuschicken. Die sauber geleerten Schüsseln, die in die Küche zurückkamen, erregten dort einiges Aufsehen.
»Ich wünschte wirklich, die Schinkenscheiben wären ein wenig dicker. Und nur eine einzige Semmel! Davon wird doch kein Mensch satt«, sagte Colin.
»Es reicht höchstens für einen Sterbenden«, bestätigte Mary. »Keiner, der leben möchte, kommt damit aus. Manchmal habe ich das Gefühl, daß ich für drei essen könnte!«
An dem Morgen also, da Dickon — nachdem sie zwei Stunden zusammen im Garten gearbeitet hatten — hinter einem Rosenstrauch hervor zwei Kannen holte, von denen eine bis zum Rand mit frischer Milch gefüllt war, während in der anderen Korinthenbrötchen lagen, die so sauber und sorgfältig verpackt in blau und weiß gewürfelten Taschentüchern steckten — da nahm der Jubel kein Ende! Wie wundervoll war es, daß Mutter Sowerby an so etwas dachte! Was für eine nette, kluge Frau mußte sie sein! Wie gut waren die Korinthenbrötchen! Und die köstlich frische Milch!
»Sie ist eine Zauberin, genau wie Dickon«, sagte Colin. »Drum kommt sie auf Gedanken, die keinem anderen einfallen würden. Sie ist wirklich eine Zauberin. Sag ihr, daß wir ihr dankbar sind, Dickon. Außerordentlich dankbar.« Manchmal gefiel sich Colin darin, Redensarten von Erwachsenen zu gebrauchen. Es gefiel ihm so sehr, daß er noch ein Weilchen dabeiblieb. »Sag ihr, daß sie sehr großherzig gewesen ist, und daß unsere Dankbarkeit keine Grenzen hat.«
Dann aber vergaß er seinen Redeschwall und fiel über die Korinthenbrötchen her. Er trank in tiefen Zügen die Milch aus der Kanne, genau wie andere hungrige und durstige Jungen, die seit zwei Stunden nichts mehr zu sich genommen haben. Das Frühstück an diesem Morgen war die erste einer langen Reihe von köstlichen Mahlzeiten. Da Colin und Mary klar war, daß Mrs. Sowerby
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